Kapitel 105 - Jonathan

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Genau wie am Abend zuvor beobachtete er den Sternenhimmel durch das Fenster im Schlafzimmer. Doch heute war Sheila noch wach und kuschelte sich an ihn. 

„Es ist unser letzter Abend hier", hörte er sie neben sich sagen, woraufhin er ihr einen Blick zuwarf. 

„Stimmt. Freust du dich auf zu Hause?", fragte er und spürte, dass sie nickte. 

„Schon. Es fühlt sich einfach richtig an. Ich meine... es ist Zeit, wieder neu anzufangen und nicht mehr wegzulaufen", erklärte sie. Kurz musste er darüber nachdenken. Für sie musste es wirklich noch ganz anders sein als für ihn. Er war nicht aus seinem alten Leben geflohen und wollte einige Erinnerungen lieber als alles andere vergessen. Denn er war sich ziemlich sicher, dass sie den Angriff von Ville und seine Misshandlungen vergessen wollte. 

„Hast du schon einen Plan, was du als erstes angehen willst?", fragte er, denn selbst er erkannte, dass sie mehrere Baustellen hatte. Der anstehende Prozess, die Renovierung. Und hatte sie nicht auch davon gesprochen, wieder tanzen zu wollen? 

„Ich denke, zuerst muss ich mich um das Haus kümmern. Ich weiß, dass ich auch bei dir unterkommen kann, aber es wäre doch schön, wenn wir bald ein gemeinsames Zuhause hätten, oder?", fragte sie und er glaubte eine Spur Unsicherheit in ihrer Stimme zu hören, ob er es auch wirklich ernst meinte mit dem zusammenziehen. 

„Hey, ich habe es ernst gemeint, als ich dir gesagt habe, dass ich gerne mit dir zusammen wohnen will", beschwichtigte er sie und strich ihr sanft über den Arm. Sie lächelte. 

„Okay, ich wollte nur noch mal sichergehen", gab sie zu, doch dann seufzte sie und er bemerkte, dass ihr Blick unruhig hin und her wanderte. 

„An was denkst du?", fragte er behutsam, doch augenblicklich sah sie ihm eindringlich in die Augen. 

„Ich kann irgendwie noch immer nicht so richtig fassen, dass ich mit dir zusammen bin. Es fühlt sich noch an, als wäre es ein Traum und ich könnte jeden Moment aufwachen und ich bin wieder bei ihm", erklärte sie und in ihrem Blick erkannte er Schmerz. Seine Kiefer spannten sich unwillkürlich an, denn es ärgerte ihn, dass Ville sie so negativ beeinflusst und ihr Selbstvertrauen so zerstört hatte. 

„Aber es ist kein Traum, ich bin echt", lachte er und griff nach ihrer Hand und fing an, damit sich selbst leicht gegen die Brust zu schlagen. Sheila kicherte. 

„Du bist verrückt", brachte sie hervor, doch dann wurde sie wieder ernst. 

„Es wird allerdings ein ganzes Stück Arbeit. Zumindest wenn wir es so machen, wie ich es mir vorstelle", sagte sie. 

„Wie stellst du es dir denn vor?", hakte er nach, woraufhin sie sich auf den Rücken dreht und mit den Händen gestikulierend sämtliche Umbauten am Haus erklärte. Sie schien wie in ihrem Element zu sein, wie sie davon redete, Wände einzureißen, um Zimmer zu vergrößern, das Bad neu zu fliesen und sämtliche Möbel neu zu kaufen. 

„Klingt, als hättest du schon ziemlich genaue Vorstellungen", lachte er nach einer Weile, doch sie nickte nur. 

„So ist es nur in meiner Fantasie. Ob es wirklich so umsetzbar ist, weiß ich gar nicht. Ich müsste mal meinen Vater fragen, ob man einfach so Wände herausnehmen kann", erwiderte sie und er nickte. 

„Wenn die Wände nicht tragend sind, sollte das kein Problem sein", sagte er schulterzuckend, doch da fiel ihm etwas ein. 

„Sag mal, du hast doch gesagt, dass das Haus deinem Vater gehört", setzte er an und wartete, bis sie zustimmend nickte. 

„Wenn ich bei dir einziehe... ich meine, wie viel Miete zahlst du?", fragte er dann, worauf er nur einen verwirrten Blick erntete. Doch dann schien sie zu begreifen, worauf er hinaus wollte. 

„Ich zahle keine Miete. Ich darf einfach so dort wohnen. Zumindest, bis ich eine neue Arbeit gefunden habe", erklärte sie, als sei es das Normalste auf der Welt. 

„Aber ich habe Arbeit. Ich komme mir irgendwie vor wie ein Schmarotzer, wenn ich einfach so einziehe", fuhr er fort, doch sie winkte ab. 

„Darüber müssen wir uns erst einmal keine Gedanken machen. Ich hatte sowieso vor, ihm irgendwann das Haus abzukaufen, aber im Moment kann ich es mir noch nicht leisten", unterbrach sie ihn und betrachtete auf einmal ziemlich interessiert ihre Fingernägel. Dann seufzte sie. 

„Mein Vater meinte, dass ich ihn immer nach Geld fragen kann, aber so langsam wird es Zeit, dass ich mir wieder eine Arbeit suche. Ich will ihm nicht länger auf der Tasche liegen. Zwar lebe ich momentan von meinem Gesparten, aber wenn ich mir nicht irgendwann wieder was suche, wird es ja darauf hinauslaufen", berichtete sie mit resignierendem Ton. Jonathan konnte sie nur zu gut verstehen. Es fühlte sich einfach besser an, wenn man für sich selbst sorgen konnte. 

„Wenn es dir wieder gut geht, kannst du ja anfangen, dich zu bewerben", versuchte er sie aufzumuntern, doch sie seufzte erneut.

„Das wäre der zweite Punkt, den ich angehen würde. Nach dem Haus, meine ich. Eine Arbeit finden", erwiderte sie, doch etwas in ihrem Blick ließ ihn stutzig werden. Sie wirkte seltsam bedrückt. 

„Was ist los?", wollte er wissen, doch es dauerte einen Moment, bis sie antwortete. 

„Ich denke, ich habe einfach zu lange nicht trainiert, um noch Primaballerina zu werden. Also... sollte ich mir vielleicht Gedanken machen, was ich stattdessen kann. Aber da gibt es nicht so viel. Ich kann doch nichts außer tanzen", erklärte sie und ihr Blick wurde leer. Jonathan wusste, was sie meinte. Es musste ein schlimmes Gefühl sein, wenn man den Beruf, den man liebte nicht mehr ausüben konnte. 

„Du kannst Klavier spielen. Und singen. Außerdem kann man fast alles lernen", widersprach er ihr, doch sie schüttelte nur leicht den Kopf. 

„Aber wenn das erst Punkt zwei deines Plans ist, kümmern wir uns erst einmal um Punkt eins", versuchte er sie abzulenken, doch so recht gelang es ihm nicht. 

„Was hast du eigentlich mal gelernt? Oder hast du schon immer Musik gemacht?", fragte sie nach einer Weile. Kurz lachte er, denn er hatte in seinem Ausbildungsberuf nie gearbeitet. 

„Ich habe eine Ausbildung zum Tontechniker gemacht. Aber eigentlich habe ich immer nur Musik gemacht", antwortete er und warf ihr einen verlegenen Blick zu. Eigentlich hatte er nur eine Ausbildung gemacht, weil seine Eltern es für richtig hielten. Wäre es nach ihm gegangen, hätte er direkt mit der Musik angefangen. 

„Cool. Immerhin etwas, womit man auch was anfangen kann", sagte sie, doch er winkte ab. 

„Ich war eigentlich nur halbherzig dabei. Aber ich habe mal ein Praktikum beim Theater gemacht, das war ziemlich cool", erzählte er und lachte trocken.

„Beim Theater?", hakte sie nach, woraufhin er ihr kurz in die Augen sah. 

„Ja, ich habe da einem Tonmeister zugesehen, wie er während einer Aufführung die ganzen Geräusche im Hintergrund erzeugt hat. Das war eigentlich ganz interessant", führte er aus. Sheila rutschte ein Stück näher an ihn heran. 

„Irgendwie klingt das spannend, bei einem Theater zu arbeiten", schwärmte sie. 

„Klar, da gibt es ziemlich viele verschiedene Jobs. Wenn du Lust hast, können wir ja mal nach Stellen Ausschau halten", schlug er vor, doch nun winkte sie ab. 

„Kümmern wir uns erst einmal um Punkt 0,5 des Plans", lachte sie und stützte sich auf Ellbogen und führte ihre Lippen näher an seine heran. 

„Punkt 0,5?" fragte er, doch als Antwort bekam er nur ein Grinsen, dann küsste sie ihn. 

Slice of Life - A New Beginning IWhere stories live. Discover now