Kapitel 65 - Sheila

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Sheila saß schon fertig angezogen und mit gepackter Tasche auf dem Bett und baumelte mit den Beinen. Sie hatte wieder Joghurt mit Honig zum Frühstück bekommen, doch die Krankenschwester meinte, dass sie auch Suppe oder weiches Brot essen durfte. Außerdem durfte sie wieder sprechen. Zwar sollte sie ihre Stimme noch schonen, doch sie vermisste es, zu plappern. Außerdem sollte sie am Mittwoch noch einmal zur Kontrolle kommen, doch der Arzt hatte nicht so geklungen, als erwartete er eine Verschlechterung. 

Nervös warf sie einen Blick auf ihr Handy, doch weder hatte sich jemand bei ihr gemeldet noch hatten sich die Zeiger der Uhr weit bewegt. 

Endlich klopfte es an der Tür und sie sprang auf. Herein kamen Jonathan, ihr Bruder und ihr Vater. Anscheinend hatten sie sich verabredet, um sie abzuholen. Eilig sprang sie vom Bett und hängte sich ihre Tasche über die Schulter. Schnell nahm ihr Vater ihr die Tasche ab, dann legte er ihr eine Hand auf den Arm. 

„Wollte der Arzt nicht noch einmal kommen, bevor du gehen kannst?", fragte er, doch Sheila schüttelte den Kopf. Gerade wollte sie schon eine Geste machen, dass sie ihr folgen sollten, doch da fiel ihr ein, dass sie ja wieder sprechen durfte. 

„Der war schon da. Und ich darf wieder sprechen", sagte sie, doch sie musste sich eingestehen, dass ihr Hals sich dabei noch ganz schön wund anfühlte. Schnell schluckte sie und sah, wie sich ein Grinsen auf den Gesichtern der anderen ausbreitete. Jonathan kam einen Schritt näher und legte ihr den Arm um die Mitte. 

„Tut das Sprechen noch weh?", fragte er und sie nickte leicht. 

„Es geht schon", sagte sie dennoch, dann ging sie zur Tür. Der Arzt hatte ihr gesagt, dass sie sich einfach im Schwesternzimmer abmelden sollte, sobald sie abgeholt wurde. Also ging sie mit ihrem Gefolge im Schlepptau dorthin und klopfte an die Scheibe, die das Zimmer vom Flur trennte. 

Eine Krankenschwester saß darin an einem Schreibtisch und schrieb auf einem Blatt Papier, doch sie hob den Kopf als sie sie bemerkte. Schnell kam sie durch die Glastür links neben der Fensterscheibe. Im Gehen schnappte sie sich einen dicken Umschlag, den sie ihr hinhielt. 

„Sie sind soweit?", fragte sie, während sie zögernd den Umschlag entgegennahm. Sheila nickte nur. 

„Das ist Ihr Entlassbericht. Bewahren Sie ihn gut auf und wenn Sie Fragen haben, zögern Sie nicht, anzurufen. Dr. Wentz erwartet Sie am Mittwoch um 15 Uhr zu einem Kontrolltermin", erklärte sie, dann schenkte sie ihr ein ansteckendes Lächeln. Sie erwiderte es, anschließend wünschte ihr die Schwester noch alles Gute und sie machten sich auf den Weg nach draußen. Sie umklammerte Jonathans Hand und er strich ihr beruhigend mit dem Daumen über den Handrücken. 

„Wollt ihr heute Abend zu uns zum Essen kommen? Ich habe auch Oskar und Johnny eingeladen. Sie würden sich freuen, dich noch mal zu sehen", hörte sie ihren Vater hinter sich sagen. Schnell warf sie ihm einen Blick über die Schulter zu, dann sah sie fragend Jonathan an. 

Als sie an Johnny dachte, schmerzte ihr Herz ein wenig. Sie hatte ihn seit dem Vorfall gar nicht angerufen oder ihm geschrieben. Wahrscheinlich traute er sich nicht, sie einfach zu besuchen. Augenblicklich bekam sie ein schlechtes Gewissen, denn eigentlich verbrachten sie und Johnny ziemlich viel Zeit miteinander. 

„Von mir aus gerne", sagte Jonathan und warf ihrem Vater ebenfalls einen Blick über die Schulter zu. Auch sie nickte noch einmal, dann verließen sie das Krankenhaus. 

Plötzlich kam ihr eine Idee, doch sie wollte erst Jonathan fragen, ob er damit einverstanden war. Sie zog ihn ein wenig beiseite und warf ihrem Bruder einen vielsagenden Blick zu. Sie wusste, dass er verstehen würde, dass sie kurz warten sollten. Sie gingen ein Stück von ihnen weg, dann warf sie ihm einen Blick zu. 

„Alles okay?", fragte er, doch schnell nickte sie. 

„Hast du Lust, unseren Filmtag bei meinem Vater zu machen? Wir könnten ihm ein bisschen beim Kochen helfen, denn wenn er so viele Gäste hat, wird es ein riesiges Buffet", fragte sie ihn und sah ihn flehend an. 

„Klar, wenn es dir lieber wäre", antwortete er und lächelte. 

„Auch wenn ich gerne mit dir allein wäre, aber sie haben sich alle so lieb um mich gekümmert. Da will ich nicht direkt wieder abhauen", erklärte sie, denn sie hatte eine winzige Spur von Enttäuschung in seinen Augen gesehen. 

„Du musst dich nicht rechtfertigen. Alles okay, deine Idee ist gut", sagte er schnell und drückte ihre Hand. 

„Okay", sagte sie, dann zog sie ihn wieder zurück zu den anderen, die sich unterhielten. 

„Können wir mit zu dir? Dann wäre ich nicht so alleine und wir könnten dir beim Kochen helfen", sagte sie zu ihrem Vater, der nur die Schultern zuckte. 

„Ihr könnt immer kommen, ihr müsst nicht fragen", sagte er und lächelte erst sie und dann auch Jonathan an. Ihr wurde warm ums Herz. Ihr Vater mochte Jonathan anscheinend, denn sonst hätte er auf Armenisch geantwortet. 

„Danke", sagte Jonathan neben ihr, während ihr Vater sich mit einer winkenden Handbewegung, die halb Abwinken, halb Abschiedswinken war, in Richtung seines Autos machte. 

„Bis gleich", hörte sie Matthias sagen und kurz darauf folgte er ihrem Vater. 

„Wo hast du geparkt?", fragte sie Jonathan und er legte die Hand über die Augen, wie um die Sonne abzuschirmen. Dann zeigte er mit dem Finger in die Ferne. 

„Irgendwo ganz da hinten", sagte er, grinste sie an und zog sie an der Hand mit sich in die Richtung, in die er gezeigt hatte. 

Eine ganze Weile latschten sie schweigend und händchenhaltend über den Parkplatz, doch plötzlich blieb er stehen und schlang die Arme um sie. Mit pochendem Herzen erwiderte sie die Umarmung. Es war so schön, ihn endlich wieder richtig zu umarmen. Sie spürte sein Herz an ihrer eigenen Brust schlagen und es fühlte sich an, als verschmolzen ihre Herzschläge miteinander. 

Nach ein paar Sekunden löste er sich von ihr, legte ihr die Hände ums Gesicht und küsste sie so leidenschaftlich, dass ihr schwindelig wurde. Völlig außer Atem ließ er sie los und sie sah ihm noch einen Moment in die Augen. 

„Ich bin so froh, dass du hier bei mir bist", sagte er, dann suchte er wieder ihre Hand und ging grinsend wie ein Schneekönig weiter den Parkplatz entlang. Obwohl er nur diesen einen Satz gesagt hatte, wusste sie, dass so viel mehr dahintersteckte. Er war froh, dass sie noch am Leben war und dass Ville es nicht geschafft hatte, sie umzubringen. Er war froh, dass es ihr gut ging und sie schon nach so kurzer Zeit nach Hause konnte. Und er war froh, dass sie sich für ihn entschieden hatte. 

Slice of Life - A New Beginning IWhere stories live. Discover now