Kapitel 191 - Sheila

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„Ich kann immer noch nicht glauben, dass er wirklich von allein gegangen ist", sagte Sheila, dann schüttete sie den Inhalt des Eimers über das Geländer in den Container, der sich langsam aber sicher füllte. Sie warf Jonathan einen Blick zu, der ebenfalls seinen Eimer leerte und anschließend die Schultern zuckte. 

„Oskar meinte, dass er es anscheinend langsam begreift. Also, dass er dich in Ruhe lassen soll", erwiderte er und wandte sich wieder in Richtung Balkontür. 

Irgendwie traf sie diese Erkenntnis unerwartet und sie musste noch eine Weile auf das Geländer gestützt stehenbleiben. Sie hatte es doch die ganze Zeit so gewollt und doch war es nun komisch. Außerdem traute sie ihm noch nicht ganz, dass er wirklich eingesehen hatte, dass es besser wäre, sie würden getrennte Wege gehen. Gestern hatte er ganz und gar nicht so geklungen, aber vielleicht hatte Oskar ihn ja zur Vernunft gebracht. 

Ein Motorengeräusch ließ sie den Blick auf die Straße richten und sie sah einen kleinen blauen Twingo vor Jonathans Wagen an den Straßenrand fahren. Ein wenig ungläubig beobachtete sie, wie sich die Beifahrertür öffnete und Matthias ausstieg, doch Jonas blieb im Wagen sitzen. Matthias ging um das Auto herum auf den Bürgersteig, warf noch einmal einen langen Blick durch das Fahrerfenster, dann fuhr Jonas wieder los und verschwand. 

Sheila stieß sich vom Geländer ab und ging wieder nach drinnen, wo sie ihren Eimer neben Jonathan abstellte, der gerade dabei war, Schutt in seinen zu füllen. 

„Mein Bruder ist da. Jonas hat ihn gebracht, aber es ist wieder gefahren", sagte sie zu ihm und beeilte sich nach unten zu gehen. Sie spürte, wie Jonathan ihr hinterher sah, doch sie würde erst einmal mit Matthias reden müssen. Offensichtlich waren die beiden gestern nicht so sehr aufeinander losgegangen, dass sie es keine Sekunde mehr miteinander aushielten, aber anscheinend war die Situation zwischen ihnen alles andere als geklärt. 

Sie sprang die letzten Stufen hinunter und riss die Tür so schnell auf, dass Matthias zusammenzuckte. Obwohl er sich erschrocken haben musste, stieß er nur ein lahmes „Oh" aus. 

Sheila musste immer wieder darüber lachen, wie verpeilt er doch durch die Welt lief. Sie erinnerte sich daran, dass er mal von einem Mädchen sitzengelassen worden war und sie zu ihm gesagt hatte, dass er eine Schlaftablette sei. Er war damals ziemlich verletzt, doch diese Bezeichnung passte eindeutig zu ihm. 

„Wieso ist er wieder gefahren?", fragte sie und musterte ihn aufmerksam. Matthias Blick wanderte für einen Augenblick lang unruhig hin und her, doch dann drängte er sich an ihr vorbei ins Haus. 

„Wie wäre es mit: Hallo mein Lieblingsbruder, wie schön, dass du deinen Samstag für mich opferst?", fragte er, doch er grinste. 

„Hallo mein Lieblingsbruder, wie schön, dass du deinen Samstag für mich opferst", wiederholte sie, was ihn zum Lachen brachte. 

„Aber mal im Ernst, was war gestern los? Ich will alles wissen!", sagte sie aufgeregt, aber er winkte nur ab. 

„Er hat mich nur gebracht, weil mein Auto nicht angesprungen ist. Er kümmert sich drum, aber...", fing er an, doch dann brach er ab und betrachtete verlegen seine Hände. Sheila versuchte, seinen Blick wieder einzufangen, doch er hielt ihn von ihr abgewandt. 

„Aber was? Was heißt das? Seid ihr zusammen?", fragte sie ihn weiter aus, denn obwohl er nicht so recht mit der Sprache herausrückte, wusste sie, dass er darüber reden wollte. 

„Nein, wir sind nicht zusammen. Aber er scheint darüber nachzudenken, es noch einmal ernsthaft zu versuchen. Wir wollen uns ein paar Tage in Ruhe lassen und uns klar werden, was wir wollen", sagte er dann doch. Sheila nickte langsam. Gestern hatte Matthias noch ganz anders geklungen. Irgendwie hoffnungsvoller und zuversichtlicher. 

„Ich weiß eigentlich, was ich will. Aber er scheint es im Moment nicht zu wissen", sagte er resigniert und bestätigte ihre Vermutung. Sie sah ihn mitleidig an und legte ihm eine Hand auf die Schulter. 

„Gib ihm noch ein paar Tage Zeit. Vielleicht muss er erst entscheiden, ob er mit seinem schlechten Gewissen dir gegenüber zurechtkommt. Er hat doch ein schlechtes Gewissen, oder?", fragte sie ernst, denn würde er es nicht haben, sollte Matthias sich nicht weiter um ihn scheren. Matthias sah sie mit aufgerissenen Augen an. 

„Ja hat er! Wenn du ihn gesehen hättest, würdest du anders reden. Er hat gestern Abend nachdem wir zu ihm gefahren sind, fast nur geweint und sich entschuldigt", berichtete er und nun riss sie ebenfalls die Augen auf. Damit hatte sie ehrlich gesagt nicht gerechnet. 

„Ach was, echt?", fragte sie überrascht, doch Matthias nickte nur. 

„Ja. Er will nur ein paar Tage Zeit haben, um sich über alles klar zu werden. Und... ich hoffe, dass er es noch einmal versuchen will. Zwar tut es weh, wenn ich daran denke, was er getan hat, aber ich will nicht von ihm getrennt sein", sagte er dann mit überraschend fester Stimme. 

„Okay, dann... wirst du warten, bis er noch einmal reden will?", fragte sie nach und schnell nickte er. 

„Mir bleibt keine andere Möglichkeit. Wenn ich ihm ein Ultimatum stelle oder ihn dränge, sagt er Nein. Von daher...", erklärte und beendete den Satz mit einem Schulterzucken. 

Sheila wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte, dass Jonas schon wieder die Oberhand hatte. Er entschied, wann sie wieder redeten, obwohl er den Fehler gemacht hatte. Doch anscheinend war ihr Bruder hoffnungslos in ihn verliebt und dann tat man eben manchmal Dinge, die irrational waren. Zum Beispiel Herzrasen beim Gedanken an den Ex kriegen, obwohl man den süßesten und fürsorglichsten Freund auf der Welt hat, dachte sie bitter. Doch schnell schob sie den Gedanken beiseite und wandte sich wieder ihrem Bruder zu.

„Okay, scheint, als müsstest du dich ablenken. Es ist noch jede Menge zu tun", sagte sie dann betont gut gelaunt, was Matthias Mundwinkel für den Bruchteil einer Sekunde zucken ließ. Er ging an ihr vorbei und machte sich auf den Weg nach oben. 

Gerade als sie sich umwandte, um ihm zu folgen, klingelte es erneut. Durch das Glas der Tür erkannte sie zwei Umrisse und es mussten Laura und Karl sein. Sofort war sie ein wenig nervös, dass sie ihnen allein die Tür öffnete. Immerhin hatte sie sie erst einmal gesehen. Doch bevor sie sich zu viele Gedanken darüber machen konnte, öffnete sie die Tür und strahlte den beiden entgegen. 

Slice of Life - A New Beginning IWhere stories live. Discover now