Kapitel 7 - Jonathan

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„Du sagst, wo es lang geht", sagte Jonathan, als sie in ihre Mäntel gewickelt vor dem kleinen Café standen. Etwas unsicher sah er sie an und nicht zum ersten Mal an diesem Nachmittag hatte er das Gefühl, dass sie sich jeden Moment wieder verschließen würde. Doch sie nickte und ging voran. Er ging neben ihr her, die Hände in die Taschen geschoben, sodass er nicht wie automatisch nach ihrer Hand tastete. 

Einige Minuten gingen sie schweigend durch ein Wohngebiet, doch dann bemerkte er, dass sie ihm immer wieder verstohlene Blicke zuwarf. Er lächelte und fing ihren Blick auf. Obwohl ihr Teint ein wenig dunkler war, leuchteten ihre Wangen rot. 

„Kann ich dich was fragen?", setzte er an und sah sie neugierig an. Fragend erwiderte sie den Blick, unmissverständlich eine Aufforderung. 

„Klingt vielleicht ein bisschen blöd, aber... du kommst nicht ursprünglich aus Deutschland, oder?", hörte er sich sagen und kam sich dabei unglaublich taktlos vor. Es störte ihn nicht, dass sie Ausländerin war beziehungsweise ausländische Wurzeln hatte – er war nur neugierig.

„Ich bin Armenierin", sagte sie schließlich und er riss die Augen auf. 

„Ach was? Cool!", rief er aus, woraufhin sie lachte. 

„Als ich sechs war, sind wir nach Deutschland geflohen. Vor dem Bürgerkrieg", erzählte sie. 

„Krass. Also... richtig geflohen?", fragte er nach und kam sich ziemlich dämlich vor. Er musste zugeben, dass er zu Hause erst einmal nachgucken musste, wo genau Armenien lag. Die grobe Richtung konnte er einschätzen, doch er musste sich noch einmal eine Landkarte ansehen. Hätte er mal besser in der Schule aufgepasst. 

„Naja, es waren schon Aufstände in der Gegend und mein Vater hat beschlossen, dass es besser wäre, woanders zu wohnen. Und... irgendwie sind wir hier gelandet", fuhr sie schulterzuckend fort. Er wusste nicht wirklich, was er darauf antworten sollte, doch bevor die Stille unangenehm wurde, fing sie wieder an zu reden. 

„Und du? Bist du ganz deutsch?", wollte sie wissen, doch er lachte. 

„Ich bin ganz deutsch. Langweilig", sagte er und sah sie an. 

„Du bist nicht langweilig", gab sie zurück und knuffte ihn mit dem Ellbogen in die Seite. 

„Findest du?", fragte er und spürte, dass sich sein Herzschlag beschleunigte. Abrupt blieb sie stehen und zwang ihn so ebenfalls zum Anhalten. Zögerlich warf er ihr einen Blick zu und sofort hielt sie seinen Blick mit ihrem fest. 

„Du bist nicht langweilig", wiederholte sie ernst, dann lachte sie und stieß ihn noch einmal am Arm an. Wie aus Reflex legte er die Arme um sie. Er meinte, einen kleinen Seufzer zu hören, als sie ihren Kopf auf seine Schulter sinken ließ und ihre Stirn an seinen Hals legte. Sein Herz schlug so schnell und er wollte nichts lieber als sie endlich zu küssen, doch gerade als er ihr Gesicht umfassen und zu sich drehen wollte, löste sie sich schnell von ihm, als hätte sie sich verbrannt und ging einige Schritte von ihm weg. 

Perplex stand er da, unschlüssig, ob er ihr nun nachgehen sollte oder nicht. Er hatte den Eindruck, dass sie irgendetwas zurückhielt. Anscheinend mochte sie ihn, doch sie wollte oder konnte es nicht zulassen. Er schluckte, dann ging er ihr nach, hielt jedoch einen Schritt Abstand. Sie schlenderte weiter, die Hände in den Manteltaschen vergraben und starrte stumm auf den Boden. 

Nach einigen Minuten wurden die Häuser auf der Straße weniger und weiter hinten konnte er sehen, dass die Straße in einem Parkplatz endete. Sie führte ihn bis zum Ende der Straße, dann ging sie rechts an dem Parkplatz einen kleinen Weg entlang. 

Als er den Blick von ihr löste, sah er wenige Meter vor sich einen kleinen See, umrahmt von herbstbunten Laubbäumen. 

„Sieht echt schön aus!", stieß er aus, woraufhin sie sich zu ihm umdrehte und ihn anlächelte. Sie ging noch näher an das Ufer des Sees heran, ihre Schritte wurden von dem Laub auf dem Boden gedämpft. Kurz vor der Wasserkante stand eine grüne Bank, auf der sie sich niederließ und ihn erwartungsvoll anblickte. 

Slice of Life - A New Beginning IWo Geschichten leben. Entdecke jetzt