Kapitel 106 - Sheila

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Noch einmal warf sie einen Blick zum Ferienhaus zurück. Sie hatten den Vormittag damit verbracht, es wieder auf Vordermann zu bringen und es ein wenig zu putzen. Doch nun war es Nachmittag und sie luden ihre Sachen in Jonathans Wagen. Obwohl Sheila sich auf zu Hause freute und ihre Familie wiedersehen wollte, würde sie ihre Zweisamkeit hier in den kleinen gemütlichen Haus vermissen.

Nachdem sie knapp eine halbe Stunde unterwegs waren, zog sie ihr Handy heraus. Schnell tippte sie eine Nachricht an ihren Vater, dass sie auf dem Rückweg waren. Sie war sich sicher, dass er sie spätestens morgen, wenn nicht schon heute Abend sehen wollte. Erst da wurde ihr bewusst, dass sie ihn einige Tage nicht gesehen hatte und dass einiges passiert war, seit sie sich auf den Weg in die Lüneburger Heide gemacht hatten. 

„Hast du oder ihr nicht Lust, heute Abend zum Essen vorbei zu kommen? Matthias ist auch hier, er würde sonst nur im Bett liegen und sich selbst bemitleiden", schrieb ihr Vater ihre Erwartungen erfüllend. Schnell wandte sie sich Jonathan zu. Sein Blick war starr auf die Straße gerichtet. 

„Hättest du Lust, heute Abend wieder bei meinem Vater zu essen?", fragte sie, woraufhin er ihr einen schnellen Blick zuwarf. 

„Gerne. Aber wenn das so weiter geht musst du dich wohl oder übel damit abfinden, dass ich noch platze bei so viel gutem Essen", scherzte er und lachte kurz über seinen eigenen Witz. Sheila schnaubte. 

„Ich glaube bist du platzt, dauert es. Dein Magen knurrt gefühlt rund um die Uhr!", erwiderte sie und dachte daran, wie viel er so verdrückte. Verrückt, dass er dabei nicht dick wurde. 

„Stimmt", gab er zu, doch dann konzentrierte er sich wieder auf die Fahrt. Schnell tippte sie eine Antwort an ihren Vater. 

„Jonathan und ich kommen gerne. Gibt es bei Matthias immer noch nichts Neues? Kommt er allmählich klar oder ist es noch immer nicht besser?", schrieb sie und keine Minute später traf eine Antwort ein. 

„Es ist noch nicht wirklich besser mit ihm. Du weißt ja, wie er ist. Aber lass uns doch nachher darüber reden", las sie und augenblicklich machte sie sich ein wenig Sorgen um ihren Bruder. Ja, sie wusste, wie er war und genau das war es, was sie beunruhigte. Obwohl er von außen immer ziemlich gelassen und unbeteiligt wirkte, war er innerlich leicht zu zerbrechen. Vielleicht war seine Strategie, für alle unnahbar und gleichgültig zu wirken, damit man ihn nicht verletzte, aber er nahm sich vieles mehr zu Herzen als man annehmen würde. 

Kurzentschlossen schrieb sie ihm eine Nachricht. Er sollte wissen, dass sie für ihn da war und er nicht allein durch seinen Kummer musste. 

„Willst du nachher mal reden?", schrieb sie, doch sie wartete vergeblich auf eine Antwort. Nach ein paar Minuten schob sie ihr Handy in ihre Handtasche, drehte das Radio lauter und genoss einen Moment die Musik.

Knapp zweieinhalb Stunden später parkte Jonathan den Wagen vor dem Haus ihres Vaters. Obwohl sie es durchaus verstanden hätte, wenn er nach der langen Fahrt lieber nach Hause wollte, hatte er ihr Angebot, sie nur abzusetzen, ausgeschlagen. Ihr wurde warm ums Herz bei dem Gedanken, dass er jemand war, der anscheinend ihre Bedürfnisse über seine stellte. Obwohl es schön war, fühlte sie sich gleichzeitig ein wenig schlecht dabei und sie nahm sich vor, ein wenig mehr auf ihn einzugehen. Denn das hatte er eindeutig verdient.

Noch bevor Jonathan den Motor abgestellt hatte, wurde die Haustür bereits geöffnet und zu ihrer Überraschung kam Lisa heraus. Eilig stieg sie aus und ging ihr entgegen, doch sie lächelte nur kurz, dann wurde ihre Miene ernst. 

„Hey", sagte Sheila leise, woraufhin Lisa die Arme ausbreitete und nun doch wieder ein Lächeln aufsetzte. 

„Lass dich mal drücken!", sagte sie, während Sheila sich schon in ihre Arme fallen ließ. Obwohl sie sich gut mit Lisa verstand, hatte sie nicht so eine enge Beziehung zu ihr, wie ihr Vater es sich wünschte. Trotzdem tat es gut, von ihr umarmt zu werden. Nach in paar Sekunden löste sie sich von ihr und Lisa winkte Jonathan ein wenig schüchtern zu. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass er den Gruß erwiderte. 

„Ich bin so froh, dass du da bist. Vielleicht schaffst du es ja, dem Trauerspiel da drinnen ein Ende zu bereiten", sagte sie tonlos, doch es war sofort klar, dass sie Matthias meinte. Innerlich musste sie grinsen, aber bei Lisas ernster Miene unterdrückte sie es. 

„Ich kann es versuchen", erwiderte sie, woraufhin Lisa seufzte und sich dann zum Gehen wandte. Sheila suchte nach Jonathans Hand und warf ihm einen zerknirschten Blick zu, dann folgten sie Lisa ins Haus. 

Wie immer empfing sie in dem Haus ihres Vaters eine gewohnte Wärme und Geborgenheit. Obwohl sie nicht in diesem Haus aufgewachsen war, fühlte sie sich hier zu Hause. Im Flur zogen sie sich Schuhe und Jacken aus und gerade als sie ihren Mantel an die Garderobe gehangen hatte, kam ihr Vater aus dem Wohnzimmer und stürzte sich beinahe auf sie. Etwas überrumpelt erwiderte sie die Umarmung. 

„Ist alles in Ordnung mit dir?", fragte er leise in ihr Ohr und sie nickte nur stumm. Ihr Vater war noch nie ein Mann der vielen Worte gewesen, doch es war eindeutig, dass er sich wirklich Sorgen um sie gemacht hatte. Noch einmal drückte er sie fest an sich, dann ließ er sie los und hielt sie an den Schultern ein Stück von sich weg und betrachtete sie von oben bis unten. 

„Alles noch dran", lachte sie, doch ihr Vater war ganz und gar nicht zu Scherzen aufgelegt. 

„Ich bin immer noch wütend, dass du dich in Gefahr gebracht hast", sagte er leise, dann bemerkte sie, dass er über ihre Schulter hinweg Jonathan anfunkelte. Sie legte ihre Hände auf die ihres Vaters und schob sie von ihren Schultern. 

„Es ist doch alles gut ausgegangen", beschwichtigte sie ihn, doch er starrte sie noch einen Moment an, bis er eine Kopfbewegung in Richtung Wohnzimmer machte. Eilig warf sie einen Blick zu Jonathan, der ein wenig betreten dreinblickte. Er hatte die Hände in die Hosentaschen geschoben und es war eindeutig, dass er sich unter den Blicken ihres Vater nicht ganz wohl gefühlt hatte. Sheila streifte ihn kurz am Arm, um ihm zu zeigen, dass er sich keine Vorwürfe machen brauchte. Ihr Vater war nie lange wütend. 

Jonathan zwang sich zu einem kurzen Lächeln, dann betraten sie das Wohnzimmer. Lisa saß mit Maxim auf dem Arm auf dem gigantischen Sofa und spielte mit ihm. Ihr Vater setzte sich neben sie und bedeutete mit einer Handbewegung, dass sie und Jonathan sich ebenfalls setzen sollten. Sie befolgte seinen stummen Befehl und lehnte augenblicklich den Kopf an seine Schulter. Irgendwie war es noch immer schwer zu fassen, dass nun alles vorbei sein sollte. 

„Wie war es denn im Ferienhaus? Was habt ihr so unternommen?", fragte er sichtlich bemüht, nicht über den Vorfall mit Ville zu reden. Sheila war sich sicher, dass er das erst tun würde, wenn Jonathan nicht dabei wäre. 

Bevor sie ihm antwortete, lächelte sie Jonathan an, der zaghaft die Hand nach ihrer ausstreckte. Sie verschränkte ihrer Finger mit seinen, dann wandte sie sich wieder ihrem Vater zu. 

„Wir waren shoppen und im Restaurant und ich habe seine Eltern kennengelernt", plapperte sie drauf los, nur um sich von dem Gedanken an ihre misslungene Lockvogel-Aktion abzulenken. 

„Hast du dir was gekauft?", fragte ihr Vater nach und schnell nickte sie. 

„Ja, aber nichts besonderes. Ein Kleid und ein paar Oberteile. Jonathan ist nicht so ausdauernd wie Johnny", scherzte sie und drückte kurz seine Hand. Jonathan lachte leise, doch langsam schien er aufzutauen. Wahrscheinlich hatte er Bedenken, dass Darren wütend auf ihn war, weil er sie nicht von ihrer Idee abgebracht hatte, sich mit Ville zu treffen. 

„Schön. Ich bin sicher, dass Johnny sich freut, wenn ihr noch mal zusammen shoppen geht. Ich glaube, er wollte sich ein neues Outfit für Oskars Geburtstag kaufen", lachte ihr Vater. Erst da wurde ihr wieder bewusst, wie sehr sie die Welt um sich herum vergessen hatte. Es musste bald der 23. Oktober sein, Oskars Geburtstag. 

„Ich wollte mich sowieso noch einmal mit ihm treffen", sagte sie, dann setzte sie sich wieder aufrecht hin. Ihr Vater warf einen Blick auf seine imaginäre Uhr und seufzte. 

„Ich werde mich mal so langsam um das Essen kümmern. Vielleicht kannst du in der Zwischenzeit mal nach deinem Bruder sehen. Er ist im Gästezimmer und zerfließt in Selbstmitleid", stöhnte er und runzelte die Stirn. Hastig warf sie einen Blick zu Jonathan, der ihr aufmunternd zunickte. 

„Vielleicht kannst du ihm ein wenig helfen", sagte er und bedeutete ihr mit seinem Blick, dass er auch ein paar Minuten ohne sie auskommen würde. Sie erhob sich gleichzeitig mit ihrem Vater und schnell wie ein Blitz rutschte Lisa auf ihren Platz. Sie schien sich etwas mit Jonathan unterhalten zu wollen. Ob sie es tat, weil sie ihn besser kennenlernen wollte oder weil ihr Vater sie darauf angesetzt hatte, konnte sie nicht sagen. 

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