Kapitel 72 - Jonathan

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Jonathan konnte sich nicht wirklich konzentrieren, doch er hatte sich einigermaßen zusammenreißen können und zumindest ein bisschen geschafft. Nun saß er auf dem Sofa, der Fernseher lief im Hintergrund auf dem Schoß hatte er eine riesige Schüssel mit Salzbrezeln. 

Immer wieder warf er einen Blick auf sein Handy, doch Sheila meldete sich nicht. Er wusste, dass ihr Vater sich gut um sie kümmerte, wenn es ihr nach dem Termin beim Anwalt schlecht gehen würde, doch konnte er nicht abstreiten, dass er am liebsten mitgefahren wäre. Gleichzeitig er wollte sie nicht nerven und ihr zu sehr auf die Pelle rücken. 

Er stopfte sich gerade eine Handvoll Brezeln in den Mund, als sein Handy vibrierte. Schnell kaute er und schluckte die Brezeln hinunter, doch ein Blick auf das Display verriet ihm, dass es nur seine Mutter war. Trotzdem beeilte er sich, das Gespräch anzunehmen. Wenn er ehrlich zu sich war, musste er zugeben, dass er sich in den letzten Wochen viel zu selten gemeldet hatte. 

„Hallo Mama", meldete er sich, dann spülte er noch schnell mit einem Schluck Wasser die letzten Reste der Brezeln aus seinem Mund. 

„Hallo, wie geht es dir? Hast dich ja lange nicht mehr gemeldet", plapperte sie direkt drauf los, wobei der Vorwurf unüberhörbar war. 

„Ganz okay. Ist viel passiert in den letzten Tagen", erklärte er, wobei ihm einfiel, dass seine Mutter ja noch gar nicht wusste, was passiert war. 

„Hast du viel mir deiner neuen Freundin unternommen?", fragte sie und klang dabei ehrlich interessiert. Obwohl sie eigentlich nur wusste, dass er eine Freundin hatte und sonst nichts, schien sie ihn nicht ausfragen zu wollen. Kurz schluckte er. Sollte er es ihr erzählen? Es würde ihm sicherlich guttun, einmal über alles mit jemandem zu sprechen, doch gleichzeitig wusste er nicht, ob Sheila damit einverstanden war. 

„Du zögerst. Ist wirklich alles in Ordnung?", fragte sie nach. Er seufzte. 

„Ich weiß nicht so recht, ob sie das in Ordnung findet, wenn ich es dir erzähle", erklärte er, während er sich unterbewusst nervös durch die Haare fuhr. Er wusste, dass seine Mutter neugierig war, aber er hatte Gewissensbisse. 

„Wenn es dich belastet, dann sprich es aus. Es wird dir guttun", forderte sie ihn auf, aber er zögerte noch einige Momente. Doch dann entschloss er sich, ihr alles zu erzählen. Er wusste, dass sie sie nicht verurteilen würde, wenn sie sie bald persönlich kennenlernen würde. 

„Aber wenn ich es dir erzähle, musst du mir versprechen, dass du sie nicht verurteilst", sagte er trotzdem in ernstem Ton und schnell bejahte seine Mutter. Er konnte sie förmlich vor sich sehen, wie sie auf heißen Kohlen saß. 

„Okay. Also. Als ich sie kennengelernt habe, hatte sie noch einen Freund", fing er an, doch er wurde von einem Seufzen unterbrochen. 

„Kannst du vielleicht erst einmal zuhören?", giftete er sie an. 

„Ja, ja ich halte den Mund. Erzähl weiter", sagte sie schnell und verstummte wieder. 

„Am Anfang wusste ich es nicht, aber sie hat es mir ziemlich schnell gesagt. Aber es ist jetzt nicht so, wie du denkst. Ihr inzwischen Ex-Freund hat sie nicht wirklich gut behandelt. Sie war mit ihm zusammen, seit sie 14 war und er hat offensichtlich ein Drogenproblem. Sie wollte sich schon lange von ihm trennen, aber sie hat es nicht allein geschafft. Sie brauchte anscheinend jemanden, der ihr dabei half", fuhr er fort und wartete auf die Reaktion seiner Mutter. Sie schwieg einen Augenblick, dann hörte er, wie sie beherrscht ein- und ausatmete. 

„Wenn du sagst, er hat sie nicht gut behandelt, wie genau meinst du das?", wollte sie wissen, woraufhin er den Blick senkte und an einem losen Faden seiner Hose herumspielte. 

„Als sie an einem Abend zu mir kam, hatte sie eine geschwollene Wange und in ihrem Auge war ein Äderchen geplatzt. Sie meinte, das wäre nicht schlimm, aber dann hat sie erzählt, dass er sie schon mal geschlagen hatte. Und zwar so, dass sie ins Krankenhaus musste. Aber was ich eigentlich erzählen wollte ist etwas anderes. Vor ein paar Tagen hat sie sich von ihm getrennt. Er hat es nicht wirklich gut aufgenommen, doch er hat sie nicht wieder geschlagen. Sie ist dann erst einmal bei mir geblieben, aber er hat sie irgendwie dazu überredet, dass sie noch einmal reden. Davor hat er sie fast durchgängig angerufen und mit Nachrichten bombardiert. Naja, immerhin hat sie zugestimmt, dass sie sich mit ihm trifft, allerdings nicht allein. Wir sind zu ihrem Vater gefahren, dort hat sie ihm noch einmal gesagt, dass es Aus ist. Er wirkte ziemlich gefasst und er wollte, dass sie mit nach Hause kommt, um ein paar gemeinsame Sachen zu sortieren und er wollte ihr noch irgendetwas sagen, was nur sie wusste. Ich habe bis heute keine Ahnung, was das war, aber sie wirkte, als gäbe es da wirklich etwas, worüber er nur mit ihr reden konnte. Also ist sie mit ihm gegangen, aber ihr Vater und ich sind hinterher gefahren und haben vor ihrem Haus gewartet. Irgendwie hatte ich die ganze Zeit ein komisches Gefühl und auch ihr Vater wirkte nervös. Wir hatten uns vorgenommen, zwanzig Minuten zu warten und sie dann zu holen. Doch er kam vorher raus und meinte, wir sollen rein gehen. So wie er das gesagt hat... er klang einfach nur kalt und gefühllos. Auf jeden Fall sind wir dann rein und haben sie gefunden", plapperte er daher wie auswendig gelernt. Seine Mutter lauschte und unterbrach ihn kein einziges Mal. Er schluckte, denn ohne es verhindern zu können, sah er sie wieder vor sich auf dem Boden zusammengekauert und nach Luft ringend.

„Was hat er getan?", hörte er seine Mutter mit leiser Stimme fragen und er zwang sich seine Aufmerksamkeit wieder auf das Gespräch zu lenken. 

„Er hat sie gewürgt. Sie sah schlimm aus, sie hatte Schaum vor dem Mund, die Augen waren ganz rot und ihr Gesicht war blau angelaufen", sagte er leise und musste dabei die Augen schließen, damit keine Träne herauskullerte. 

„Das ist schrecklich! Ist sie okay?", keuchte seine Mutter in den Hörer und es dauerte einen Moment, bis er sich wieder gefasst hatte. 

„Ja, sie ist gestern aus dem Krankenhaus entlassen worden. Sie hatten ihn festgenommen, doch sie mussten ihn wieder freilassen. Aber er darf sich ihr nicht nähern. Als ich sie im Krankenhaus besucht habe, kam er auch gerade an. Aber er hat es nicht bis zu ihr geschafft. Gestern haben wir ein paar Sachen von ihr zu Hause geholt. Sie bleibt erst einmal bei mir, bis das alles vorbei ist", erklärte er weiter. 

„Das klingt vernünftig. Wo ist dieser Kerl jetzt? Wenn sie ihn freilassen mussten, muss er ja irgendwo sein", entgegnete seine Mutter und er konnte nicht anders als zu lächeln. Anscheinend sorgte sie sich ebenfalls um sie, obwohl er sie ihr noch nicht vorgestellt hatte. 

„Er ist anscheinend bei irgendeiner Freundin. Aber es ist mir auch egal, wo er ist. Ihr Vater hat die Schlösser am Haus ausgetauscht. Gerade ist sie bei einem Anwalt und ich weiß nicht, wie es ihr heute Abend geht", fuhr er fort. 

„Kümmer dich gut um sie. Das klingt alles, es hätte sie es nicht leicht. Aber wie ist sie sonst so? Erzähl mir doch ein bisschen was über sie!", forderte seine Mutter ihn mit überschwänglicher Stimme auf, ohne Zweifel, um ihn aufzumuntern. Er lächelte. 

„Sie ist Tänzerin. Allerdings ist sie noch krankgeschrieben. Zuletzt hat sie am Staatsballett getanzt, meinte sie. Und sie hat einen Zwillingsbruder und einen kleinen Halbbruder", plapperte er drauf los und genoss es, seiner Mutter davon zu erzählen wie wunderbar sie war. Er berichtete von gestern Abend, wie sie und ihre Freunde und Familie zusammen gegessen hatten und er erzählte von ihrer aufgedrehten Nichte Duygu und der kleinen Aaliyah. Eine ganze Weile unterhielten sie sich noch, doch nach fast einer Stunde verabschiedeten sie sich mit dem Versprechen, dass Jonathan sie bald zusammen mit Sheila besuchen kommen würde. 

Nachdem er aufgelegt hatte, aß er noch ein paar Salzbrezeln, dann sah er etwas fern und wartete, bis Sheila sich bei ihm meldete. 

Slice of Life - A New Beginning IOnde histórias criam vida. Descubra agora