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Lion wirkt kurz ein wenig überfordert, beginnt dann jedoch mich aufzuklären: "Roy ist auf mich zu gekommen und hat mir das Angebot gemacht dich mitzunehmen. Er hat gesagt, dass er gemerkt hat, dass du ihn nicht mehr liebst und dass du absolut nicht mehr für ihn arbeiten willst. Ich musste ihm versichern, dass du keine rechtlichen Schritte gegen ihn einleiten wirst; dafür hat er im Gegenzug versprochen dich in Ruhe zu lassen, sprich dich nicht mehr zu kontaktieren."

"Das ist alles?", hake ich ungläubig nach. Das klingt ja fast zu schön um wahr zu sein.

"Wenn du mich fragst, hat er bemerkt, dass du dich zunehmend gegen ihn auflehnst. Ich denke das Risiko, dass du bei der nächsten Razzia bereitwillig aus dem Nähkästchen plaudern wirst oder bei der nächstbesten Gelegenheit fliehen könntest, war ihm zu groß. Oder hart gesagt: Kosten und Nutzen haben sich für ihn einfach nicht mehr gedeckt."

"Dann hat meine Ansprache nach dem Besuch von Jenny wohl doch Wirkung gezeigt", schlussfolgere ich nachdenklich.

"Das denke ich auch. Und darüber hinaus hast du dich immer weniger von ihm einschüchtern lassen. Ich glaube, dass Roy ein Mensch ist, der immer nur so lange stark ist, wie er keinen Gegenwind bekommt. Sollte man sich ihm widersetzen, weiß er sich nicht anders zu helfen als verbal ausfallend zu werden, zu drohen oder gleich zuzuschlagen. Sollte das dann plötzlich nicht mehr wirken, ist er aufgeschmissen. Dass du an den Punkt gekommen bist, an dem du seinen Befehlen keine Folge mehr leisten wolltest, hat ihn an seine Grenzen gebracht. Bei einem Menschen der sich durch Zwangsprostitution finanziert, kann man durchaus davon ausgehen, dass er es sich gerne leicht macht und du warst für ihn kein leicht verdientes Geld mehr. Du bist minderjährig, und hast dadurch für ihn ein deutlich erhöhtes Risiko dargestellt, erst recht, nachdem sogar schon die Polizei davon Wind bekommen hat. Du hast begonnen dich gegen ihn aufzulehnen, da er dir so viel Leid zugefügt hat, dass du dachtest, schlimmer kann es eh nicht mehr werden und da du ihn allmählich durchschaut hast. Da war es für ihn leichter, dich ziehen zu lassen und sich ein neues Mädchen zu suchen, das ihm seine Lügen noch abkauft und sich bereitwillig für ihn verkauft."

Ich bin überrascht, wie rational Lion das ganze sieht und wie wahnsinnig gut er Roys Verhalten analysiert hat.

"Zum Glück", antworte ich gedankenverloren. "Es wäre nur noch besser, wenn einem wie ihm endgültig das Handwerk gelegt wird."

"Damit hast du natürlich Recht, Schatz", antwortet Lion sanft und zieht mich an sich. Es ist das erste Mal, dass er mir einen solchen Kosenamen gibt und ich könnte mich glatt daran gewöhnen. "Aber du solltest dich jetzt erst mal auf dich selbst und deine Zukunft konzentrieren. Ob und wie du gegen ihn vorgehst, solltest du dir reiflich überlegen und das erst, wenn du emotional stabil bist."

"Ach Malia, eine Sache wäre da noch", schiebt er nach und steht auf. Aus seiner Jackentasche holt er einen Briefumschlag auf dem in Großbuchstaben mein Name steht. "Was ist das?", frage ich verwundert.

"Ich habe von Roy verlangt, dass er dir das Geld wiedergibt, was er dir weggenommen hat. Dein Erspartes. Es steht dir zu", erklärt Lion mir und wedelt mit dem weißen Umschlag vor meiner Nase herum. "Na los, nimm schon."

"Er hat dir das einfach so gegeben?", frage ich überrascht.

"Nein, hat er nicht. Aber sagen wir mal so: ich habe mich darum gekümmert", antwortet er noch, weicht dann jedoch allen weiteren Fragen diesbezüglich aus.

...

Was Lion mit "emotional stabil" meint, habe ich in dem Moment, in dem er davon sprach, weder verstanden noch hinterfragt, aber als er nach dem Wochenende wieder zur Uni muss und ich den ganzen Vormittag alleine bin, verstehe ich es langsam. Ich fühle mich furchtbar nutzlos, hatte mich doch gerade so daran gewöhnt, gefühlt Tag und Nacht zu arbeiten. Mir fehlt die Selbstständigkeit, mir fehlt das Geld und mir fehlt es zu Arbeiten, auch wenn mir die Arbeit an sich natürlich nicht fehlt.

Rot wie die LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt