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"Zum Tätowierer? Was willst du dir denn stechen lassen?", fragt Lion lächelnd und schiebt mir zärtlich eine Haarsträhne hinters Ohr.

"Ich habe im Mirage eine Freundin gefunden, Joana", erkläre ich Lion schweren Herzens. "Sie war wirklich was besonderes für mich. Sie hat mir beigestanden und mir Kraft gegeben und war immer für mich da. Du hast sie beim Abiball gesehen, sie hat mich begleitet."

Lion nickt. "Aber wieso sprichst du in der Vergangenheit? Seid ihr nicht mehr befreundet?" "Sie ist gestorben", antworte ich und spüre, wie sich ein dicker Kloß in meinem Hals bildet. "Wie? Hatte sie einen Unfall?", fragt er erschrocken und verstärkt seine Umarmung noch ein bisschen.

"Sie wurde ermordet, Lion", offenbare ich traurig.

Seine Augen weiten sich entsetzt. "Oh Gott Malia, das ist ja grausam", entfährt es ihm. "Das tut mir wahnsinnig leid für dich", sagt er ehrlich und streichelt über meine Wange. "Du willst dir also ein Tattoo in Erinnerung an sie stechen lassen?", schlussfolgert er treffsicher.

"Ja, genau", antworte ich mit brüchiger Stimme. "Weißt du schon, was für ein Motiv es werden soll?", fragt er interessiert und setzt sich aufs Bett. Ich lasse mich neben ihn auf die weiche Matratze sinken und antworte: "Ja, tatsächlich schon. Es sollen zwei Hände sein, die fest miteinander verschlossen sind, in einer einfachen Linienzeichnung und darunter ihr Name, Joana, wobei das letzte a eine langgezogene Linie bekommt, die zu einem fliegenden Vogel wird", versuche ich Lion das Bild, was mir vor Augen schwebt, so gut wie möglich zu erklären.

"Das klingt wirklich schön und sehr konkret. Erzählst du mir, wie du darauf kommst?", fragt er lächelnd und greift nach meiner Hand.

Ich würde es ihm gerne erzählen, aber was soll ich denn sagen? An dem Tag, an dem Joana und ich von einer Horde Irrer vergewaltigt wurden, hat sie die ganze Zeit meine Hand gehalten und als Roy mich hinterher zusammengeschlagen hat auch? Das kann ich Lion einfach nicht ins Gesicht sagen..

"Du musst es mir nicht erklären", lenkt Lion sofort ein, wahrscheinlich da er meine Unsicherheit bemerkt.

"Würde ich aber gerne. Es ist bloß so, dass ich dir einfach noch nicht alles sagen kann", gebe ich zu. Der Schmerz ist einfach noch zu frisch.

"Das ist doch okay, Malia. Du kannst mir so viel sagen, wie du willst und wenn da ein paar Lücken bleiben, ist das auch okay. Du bist mir keine Rechenschaft schuldig und gleichzeitig brauchst du mich nicht zu schützen. Was immer du mir erzählen willst, kannst du mir erzählen und was immer du mir verschweigen willst, darfst du mir verschweigen. Wir gehen in deinem Tempo vor" sagt Lion einfühlsam.

Er ist so ein Schatz. Wie selbstlos und aufopferungsvoll er trotz allen Widrigkeiten um mich kämpft, rührt mich einmal mehr zutiefst.

Statt zu antworten, lehne ich mich nach vorne und drücke ihm einen intensiven Kuss auf den Mund.

"Womit habe ich das verdient? Wieso hast du mich immer noch nicht aufgegeben?", frage ich atemlos, als wir uns voneinander lösen.

"Ganz ehrlich? Nach unserem letzten Aufeinandertreffen, als ich dich da an der Bahnhaltestelle gesehen habe, völlig verängstigt und grün und blau geschlagen, war ich wirklich an einem Punkt, wo ich mit dir abschließen wollte und versuchen wollte, dich zu vergessen. Versteh mich nicht falsch, Malia, ich liebe dich wie verrückt, das ist es nicht, und es geht auch nicht um mich. Auch wenn es mir das Herz bricht mit anzusehen, was er dir antut, und dass es immer schlimmer wird, wäre das für mich niemals ein Grund aufzugeben, weil ich weiß, dass es dir ja noch schlechter gehen muss. Ich wollte dir nur einfach keine Schwierigkeiten machen und dich in Ruhe lassen, damit ich dir nicht am Ende noch schade. Egal ob wir zusammen sind oder nicht, ich will einfach nur, dass es dir gut geht. Deshalb wollte ich versuchen, von dir loszukommen, weil ich das Beste für dich will."

Rot wie die LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt