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Roy kommt mir entgegen meiner Erwartungen nicht mehr hinterher und auch den restlichen Tag lässt er sich nicht mehr bei mir blicken. Ich ziehe meine Schicht durch, auch wenn ich selbst merke, dass ich immer wieder meine Wut an den Kunden auslasse, doch das ist mir egal. Sie tragen genauso eine Mitschuld an meiner Situation wie Roy. Sollen sie doch spüren, wie beschissen ich das alles finde.

Als ich abends durchs Treppenhaus laufe, kommt mir Roy dann plötzlich entgegen. Für den Bruchteil einer Sekunde wird mir mulmig zumute. Wir sind alleine in dem abgeschotteten Flur und Roy ist mir körperlich deutlich überlegen.

War es doch ein Fehler, Roy so eine klare Ansage zu machen?

Wenn er sich rächen wollen würde, wäre das jetzt die perfekte Gelegenheit dazu. Er müsste mich nur die Treppen runterstoßen und es würde aussehen wie ein Unfall.

"Reiß dich zusammen, Malia", befiehlt die Stimme in meinem Kopf entschieden, während ich langsam weiterhin einen Fuß vor den anderen auf die schmalen dreckigen Stufen setze.

Bloß keine Angst zeigen, wie, wenn man plötzlich einem Raubtier in freier Wildbahn begegnet.

Ich entscheide mich dazu, ihn einfach zu ignorieren und wortlos an ihm vorbei zu laufen.

Der Duft seines markanten Parfums gemischt mit dem Geruch seiner Lederjacke und einer leichten Grasnote steigt mir in die Nase und lässt mein Herz vor Angst schneller schlagen. Ich halte meinen Blick trotzig auf meine Schuhe gerichtet und atme erleichtert auf, als ich ihn passiert habe.

Als er dann die Tür zur zweiten Etage mit einem lauten Knall ins Schloss schmeißt, entspannt sich mein auf Alarm getrimmter Körper merklich, auch wenn ich überrascht bin, dass er kein Wort zu mir gesagt hat.

***

Es ist der 17. Mai, etwas weniger als zwei Jahre, nachdem ich Roy das erste Mal begegnet bin, als es an der Tür meines Zimmer klopft. "Malia?", ertönt eine vertraute Stimme.

Verwirrt schaue ich auf mein Handy.

Heute ist doch gar nicht Montag.

Mit schnellen Schritten durchquere ich das kleine Zimmer und öffne schwungvoll die weiße Tür. Ich habe keine Halluzinationen, es ist wirklich Lion, der im Flur steht und über das ganze Gesicht strahlt.

"Was machst du hier?", frage ich ihn irritiert.

"Ich hole dich ab und helfe dir beim Packen", erklärt er grinsend.

Ich habe nur Fragezeichen in meinem Kopf. Habe ich irgendwas verpasst?

"Es ist vorbei, Malia", sagt er ernster und sieht mir tief in die Augen.

Ich höre seine Worte, aber ich realisiere nicht, was er sagt.

"Was meinst du?"

"Wir packen jetzt deine Sachen, Mali. Ich nehme dich mit zu mir."

"Du weißt doch, dass das nicht geht", gebe ich lachend zurück. Es schmeichelt mir, dass er meinen beziehungsweise unseren Plan noch immer nicht aufgegeben hat, dabei sollte er doch mittlerweile verstanden haben, dass das nicht so leicht ist.

"Er weiß es. Es war sein Vorschlag", erwidert Lion ernst.

Ich lache laut auf. "Genau", verspotte ich ihn.

Niemals würde Roy mich freiwillig gehen lassen.

"Es stimmt", ertönt plötzlich Roys schneidende Stimme. "Pack deine Sachen, nimm alles mit, was dir gehört, und räum die Wohnung leer. Die Schlüssel kannst du da liegen lassen."

Rot wie die LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt