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Während der ganzen Bahnfahrt laufen mir Tränen wie Sturzbäche über die Wangen und sie laufen auch noch, als ich etwas später in meinem Bett liege. Ich weine mich, wie so oft in letzter Zeit, in den Schlaf und komme am nächsten morgen kaum aus dem Bett.

Ich kann nicht mal vor mir selbst rechtfertigen, aufzustehen, um zu einem Job zu fahren, den ich abgrundtief hasse, und einem Menschen die Taschen zu füllen, den ich am liebsten nie wieder sehen würde.

Nur leider habe ich keine andere Wahl. Vielleicht gibt es irgendwann einen Weg raus aus diesem ganzen Alptraum, aber er zeigt sich mir noch nicht und bis dahin sollte ich mich wahrscheinlich lieber damit abfinden, wie mein Leben von nun an aussieht und versuchen diesen Alptraum einigermaßen unbeschadet durchzustehen. Wie Kitty gestern auch gesagt hat: Ich darf nicht zulassen, dass mich dieser Job und diese Männer brechen.

Denn daran zu zerbrechen ist für mich keine Option, den Entschluss habe ich gefasst. Das würde schließlich bedeuten, Roy würde gewinnen und diesen Sieg gönne ich ihm nicht. Vielleicht habe ich diese eine Schlacht verloren, aber den Krieg noch lange nicht.

Ich versuche mit einer heißen Dusche, einer dicken Schicht Makeup, meinem Lockenstab und einem schicken Outfit das Beste aus mir heraus zu holen, aber meine Augen bleiben leer und freudlos.

Als ich gerade aus dem Haus gehen will fällt mir wieder ein, dass Roy mir ja gestern mein Handy wiedergegeben hat. Schnell stecke ich es ans Ladekabel und warte einen quälend langen Moment, bis das Display sich erhellt.

Nach und nach trudeln einige Benachrichtigungen ein, unter anderem die restlichen Nachrichten und Anrufe von Roy von dem Tag meines verhängnisvollen Fluchtversuchs, doch das interessiert mich jetzt nicht.

Aufgebracht durchforste ich meine entgangenen Anrufe und dann auch die ungelesenen Nachrichten, doch Joana hat sich nicht ein einziges Mal bei mir gemeldet.

Ich wähle ihre Nummer, doch sofort geht die Mailbox ran.

Nachdenklich stecke ich das Handy wieder weg.

Ob sie sauer auf mich ist, weil sie nur durch mich in diese Situation geraten ist?

Oder hat Radu sie vielleicht genauso schlimm zugerichtet wie Roy mich?

Ein unwohles Gefühl macht sich in meinem Magen breit.

Aber vielleicht hat Radu ihr auch einfach nur ihr Handy weggenommen, so wie Roy mir meins, versuche ich mich zu beruhigen, doch die Ungewissheit quält mich.

Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich viel zu spät dran bin, weshalb ich die belastenden Gedanken beiseite schiebe und aus dem Haus zur Haltestelle renne.

Es dauert nicht lange, bis ich am Laden ankomme und die Treppen hoch stürme. In dem kleinen Aufenthaltsraum des Rouge, das aus zwei weichen Sofas, einem kleinen Esstisch mit vier Stühlen und einer spartanischen Küchenzeile besteht, sitzen drei Mädchen. Die zwei blonden Frauen kenne ich nur flüchtig vom sehen, aber auch Kitty sitzt am Tisch. Sie hat den Kopf gesenkt und starrt vor sich hin. Auch die beiden anderen Mädchen sehen aus wie drei Tage Regenwetter.

"Was ist denn mit euch los? Ist jemand gestorben?", frage ich leichthin, um die Situation ein wenig aufzulockern. Doch anscheinend trete ich mit dieser Floskel genau in ein Fettnäpfchen, denn eines der Mädchen bricht plötzlich laut schluchzend in Tränen aus.

"Ach du scheiße, ist wirklich jemand gestorben?", frage ich besorgt und schäme mich postwendend für meine Aussage. Betreten laufe ich zu den drei jungen Frauen herüber. Kitty erhebt sich von dem schwarzen Sofa, nimmt meine Hände in ihre und sieht mich traurig an. "Malia, Joana wurde letzte Nacht gefunden. Sie ist tot. Sie wurde ermordet."

Rot wie die LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt