Unerwartet

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Der nächste Morgen fühlt sich falsch an. Ich habe ein ungutes Gefühl, dabei habe ich noch nicht einmal mein kleines Bett verlassen. Erst durch die Uhr auf meinem Tisch wird mit klar, dass es schon in den Nachmittag geht. Kein Wunder. Gestern hatte ich sogut wie keinen Schlaf bekommen und war obendrein noch ein wenig verkartert. Auch wenn das eine neue Leistung von mir ist, denn passieren tut mir das nicht oft.

Verschlafen greife ich nach meinem Handy und entdecke eine Nachticht von Maddy, die sich über meine Situation erkundigt. Alleine bei der Erinnerung sacke ich in mein Kissen zurück und muss stöhnen. Ich habe gestern mit keinem mehr geredet und will das auch jetzt erstmal vermeiden. Auch wenn ich noch ein Hühnchen mit Jona zu rupfen habe.
In lockeren Shorts und einem engen weißen Shirt trete ich aus dem Zimmer und höre den Fernseher aus dem Wohnzimmer. Ich brauche nicht nachzuschauen, wer da auf der Couch lungert, um zu wissen, wer es ist. Augenverdrehend wende ich mich meinen Vans auf dem Boden zu.
Ohne auch einen Muks von mir zu geben, trete ich aus der Wohnung und schließe die Tür hinter mir, weil sich schon seit Jahren niemand unbedingt fragt, wo ich eigentlich hingehe. Sie interessiert sich nicht und ich mache keine Anstalten mehr, es ihr mitzuteilen.
Die Sonne draußen lädt einfach nur zu einem Spaziergang ein und meine Laune verträgt gerade auch nichts anderes. Trotz des Schlafes ist mein Gang träge und ich kann es tatsächlich nicht erwarten, bis ich im naheliegenden Park ankomme, um mich auf eine Bank zu setzen.

Es wird Zeit, durch die Social-Media-Portale wieder auf den neusten Stand gebracht zu werden. Zusätzlich spüre ich, wie meine Gedanken wieder zu Bram gehen wollen, weshalb eine Ablenkung genau richtig ist.

Die Zeit genießend vergeht sie schneller, als erwartet, weshalb ich zum späten Nachmittag eine Nachricht von Mom bekomme, die möchte, dass ich uns etwas asiatisches zum Essen bringe.
Sofort wieder grimmig wühle ich meinen Geldbeutel aus der Hosentasche und stelle fest, dass dort gerade genug Geld für Chinapfanne sein sollte. Seufzend mache ich mich auf den Weg Richtung Innenstadt. Doch beim gehen fällt mir etwas eigenartiges auf. Es ist ein Gesicht, dass sich aus den vorbeikommenden Passanten abhebt und mir unheimlich vertraut vorkommt. Aber nicht auf die richtige Art. Sondern, als würde es nicht hierher gehören.
Sein Kopf ist gesenkt zwischen seinen Schultern und auf die Weise, wie seine dunkelblonden Haare gestylt sind, hätte ich ihn fast nicht erkannt. Aber sein Gesicht scheint trotzdem hervor und besitzt sogar einen Dreitagebart, der ihn interessanter wirken lässt.
"Nicolas?" Doch die wenigen Schritte vor mir legt er in rasanter Schnelligkeit weg und huscht in seinem schwarzen Shirt an mir vorbei. "Nicolas!" rufe ich nun lauter und drehe mich zu ihm. Ich setze schon erneut an und möchte ihm hinterher, da bleibt er endlich stehen und dreht sich wehmütig zu mir um.
Seine blauen Augen prallen auf mich und werden momentan größer. Sie kommen mir angespannt vor, als ich ihm näher komme. "Huh, hey! Was machst du denn hier?" frage ich matt lächelnd und obwohl unsere letzte Begegnung nicht die Beste war, hat es mich doch genug überrascht ihn hier zu sehen, um ihn aufhalten zu wollen.
"Oh, hallo, Willow. Hatte dich gar nicht erkannt." lacht er nervös, doch behält die Hände in seinen vorderen Hosentaschen. "Hast du nicht noch deine Collegezeit?"
"Eh, schon. Aber ich besuche meine Familie für die Zeit. Ich fahre aber auch schon heute wieder ab. Was ist mit dir? Deine Zeit ist doch bestimmt auch noch nicht um." stecke ich meine Hände in die hinteren Taschen und neige den Kopf, während seine Augen mich wohl nicht direkt fixieren wollen. Ich finde es immer noch eigenartig, dass ein Typ so alt aussehen kann für einen Studenten.

"Ich habe die letzte Woche frei genommen und bin hier tatsächlich nur aus geschäftlichen Gründen. Wie läuft es mit deiner Familie? Du meintest letztens, ihr habt nicht die beste Beziehung." verkrümmt er sich. Es ist, als würde er sich in seinen Schultern verstecken wollen.

Mit erweiterten Augen richte ich den Kopf wieder gerade und werde wacher. "Das habe ich echt gesagt? Huh.." einen Moment überlege ich, wann ich das je erwähnt habe. Eigentlich bin ich keine Person, die sich bei jedem über ihre Probleme ausheult. Aber ich werfe das schnell zur Seite und versuche mein Lächeln aufzufrischen, da ich ihn damit wohl nur unwohler habe fühlen lassen. "Aber naja. Die Beziehung ist immer noch schwierig und ich kann nur sagen: Ich bin schon erleichtert heute wieder abzureisen. Wir werden uns bestimmt nicht so schnell vermissen." Ich lache es ab, um meinen selbstironischen Scherz nicht so traurig klingen zu lassen, doch bin im nächsten Moment trotzdem ein bisschen beschämt, ihm das erzählt zu haben.
"Ach so. Schade. Das wird wohl nicht besser bei euch, was?" fragt er mitleidig und ich kann ihm dabei nicht einmal in die Augen sehen. Ich antworte lieber nichts. Es war so schon zu viel, wenn man bedenkt, dass ich Nicolas eigentlich gar nicht kenne. "Ach man. Aber wenigstens musst du nicht mehr lange leiden. Wann geht denn dein Zug heute ab?"

Mit einem Mal werde ich hellhörig und spüre, wie sich mein Puls erschrocken erhöht, während ich ihn überrascht ansehe. Wie kommt er direkt auf den Zug? Auch sein Gesicht sieht einen Moment erschrocken aus, doch er räuspert sich und hebt lächelnd die Braue.
"Woher weißt du, dass ich mit einem Zug zurück nach Manhattan fahre?"
Er zuckt lässig die Schultern. "Kam mir offensichtlich vor. Ich bin auch so hergekommen." Ich nicke nur schwach, doch kann den misstrauischen Blick nicht lassen. "Und? Wann geht's für dich ab?"
Wieder bei der ursprünglichen Frage komme ich zurück zu mir. "Oh! Genau. Kurz nach vier. Also relativ bald." lache ich mein peinliches Verhalten ab und Blicke nervös um mich.
"Hm, ok. Na dann stehle ich nicht noch mehr von deiner kostbaren Zeit. Ignoriere deine Familie einfach und konzentriere dich auf die entspannte Fahrt, die du haben wirst. War schön, dich gesehen zu haben!" meint er plötzlich und fängt an rückwerts zu laufen, während er mir zuwinkt.
"Ah, danke!  Mach' ich und dich auch. Bye!" meine ich schnell und winke zurück, da dreht er sich schon um und läuft in die entgegengesetzte Richtung, in die ich mich langsam umdrehe. Komisch. Ich hätte erwartet, alten Freunden zu begegnen, aber nicht jemanden wie Nicolas. Was er wohl so wichtiges machen muss, dass er extra hierher kommt?

Aber ich versuche das Zusammentreffen einfach in den Hinterkopf zu schieben bis ich Maddy heute Abend davon berichten werde. Jetzt erstmal muss ich den kleinen alten Wagen finden, indem der Asiate sein Essen zubereitet.

Erschöpft atme ich aus, sobald ich Zuhause bin und den ganzen Trubel, als auch die mir fremdsprachigen Rufe und mies gelaunten Arbeiter endlich hinter mir habe.
Meine Vans zur Seite kickend trete ich durch den alten Teppich zum Esstisch im Wohnzimmer und lasse die Tüte erneut darauf fallen. Mein Mutter scheint sich für den gesamten Tag nicht vom Fleck bewegt zu haben, aber der unangenehme Geruch in der Wohnung kann einem unmöglich entgehen. "Kannst du nicht woanders deine Scheiße rauchen?" zische ich, als sie mir entgegen kommt und ich die Fenster öffnen gehe.
Sie antwortet nichts, sondern wühlt einfach in der Tüte und holt sich ihre Box mit den Nudeln heraus. Angepisst stampfe ich zu Jona und öffne die Tür zu seinem Zimmer. "Essen ist da." meine ich nur, doch er hat mich bestimmt nicht gehört, weil er mit Kopfhörern in den Ohren auf dem Bett sitzt. Dennoch steht er tatsächlich auf und folgt mir zurück ins Wohnzimmer, wo ich mit ansehe, wie Mom sich mit ihrer Box und einer Plastikgabel auf die Couch verdrückt.
"Ich dachte wir essen gemeinsam, bevor ich los muss." sage ich beleidigt, während auch Jona sich was raus nimmt.
"Keine Lust." brummt sie nur und macht es sich auf dem üblichen Platz bequem.
"Ich auch nicht." kommt es auch noch von meinem Bruder, der ohne weiteres wieder in seinem Zimmer verschwindet. Empört schaue ich ihm nach und kann nicht fassen, dass sie es so kalt lässt, auch wenn wir uns so schon kaum sehen.
"Wow, ihr seid echt tolle Menschen. Wisst ihr das?"
"Pscht. Du hörst dich wie eine verdammte Ziege an. Das nervt." kaut Mom nur und trifft unerwartet einen Nerv in mir.

Verärgert schnappe ich mir die Tüte mit der letzten Box und stürme zur Küche. Der einzige Raum neben dem Wohnzimmer, mit einem Fenster, dass ich öffne, um die Geräusche von draußen hineinkommen zu lassen, um den Fernseher zu übertönen, der mich schon aufregt.
Ich sollte daran gewohnt sein, aber anscheinend haben sich bei mir Hoffnungen aufgebaut, dass sich einiges Verändern wird, sobald ich mal kaum Zuhause bin. Tja, wohl nicht. Frustriert packe ich alles aus der Tüte und stemme mich auf der grauen Arbeitsplatte hoch, um mich auf sie zu setzen. Immer noch besser, als meine Nerven ihm Wohnzimmer zu verlieren und Essen gehört für mich nicht ins Zimmer. Ich finde es woanders eklig und einfach..unangenehm.
Seufzend picke ich in den Nudeln herum und versuche mich von dem aggressiven Hupen draußen abzulenken, während ich wehmütig auf die Uhr gucke.

I'll get youWhere stories live. Discover now