72. Kapitel

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72. Kapitel

"Ich bin so verdammt müde!" Erschöpft lehne ich mich gegen Harrys Schulter und lasse einen leisen Seufzer aus. "Du siehst auch ziemlich fertig aus, deine Augenringe sind größer als die Fläche von Russland."

"Ich hasse dich!" Ich schaffe nur ein heiseres Murmeln, selbst das Sprechen fällt mir schwer. "Hey, ich habe das doch nicht so gemeint!" Er klingt sehr schuldbewusst, doch ich schließe meine Augen und nicke leicht. "Du musst mit ihr reden, ich sehe doch, wie kaputt du bist. Das Problem wird sich nicht in Luft auflösen, wenn du das Gespräch weiterhin rauszögerst."

"Ich habe Angst davor, was sie mir sagen wird. Auch wenn ich weiß, was Sache ist, kann ich den Gedanken nicht ertragen, es aus ihrem Mund zu hören!" Ich kralle mich an sein T-Shirt und versuche, meine Tränen, die sich gerade aufstauen, zu unterdrücken. "Es gibt so viele Fragen zu klären, es wäre wirklich besser, wenn das aus der Welt geschafft ist. Ich stehe dir auch bei, du bist nicht alleine!"

"Du hast recht, aber es ist so schwer. Als ich sie heute Morgen gesehen habe, ist es mir schwer gefallen, nicht gleich loszuheulen, weil sie mir ins Gesicht gegrinst hat, so als ob nichts gewesen wäre. Dabei weiß ich, dass sie innerlich qualvolle Leiden durchlebt!" Meine Stimme ist brüchig und schwach. "Du kannst ihr nur helfen, wenn du sie wissen lässt, dass du davon Bescheid weißt und du ihr helfen wirst!"

Er erhebt sich vom Boden, wo wir uns vor wenigen Stunden in den Park gesetzt haben und hält mir seine Hand hin. "Aber erst einmal wirst du deinen Schlaf nachholen und wenn ich dich dazu zwingen muss!" Ein schelmisches Grinsen erscheint auf seinem Gesicht und ich lege mit zuckenden Mundwinkeln meine Hand in seine, damit er mich hochziehen kann.

"Ich denke, wir sollten zu mir gehen, da hast du deine Ruhe!" Er zieht mich an der Hand schnell in sein Auto, wo wir schon kurze Zeit später auf dem Weg zu seiner Villa sind. "Brauchst du sonst etwas, damit du schlafen kannst?" Nachdem er die Jalousien hinuntergezogen und mich mit seiner wohl kuschligsten Decke zugedeckt hatte, sitzt er neben mir auf dem Bett und sieht mich fragend an, ob ich etwas brauche.

Ich ziehe ihn an seinem Shirt zu mir hinunter, sodass er neben mir zu liegen kommt. "Dich." Ich flüstere heiser, ehe ich mein Gesicht in seine Brust vergrabe und merke, wie sich meine Muskeln entspannen und ich aus der Realität sacke. Ich schalte in den Schlafmodus und nehme meine Umgebung kaum mehr wahr.

Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, aber ich kann nicht sagen, ob ich nun im Wach- oder Schlafmodus bin. Einerseits erscheint mir meine jetzige Situation so surreal, andererseits ist es so, als ob das Geschehen gerade aktiv passiert. Ich sehe Lily vor mir. Die zerrissenen Klamotten hängen an ihrem schmächtigen Körper. Jegliche Farbe scheint aus ihrem Gesicht erloschen zu sein, jegliches Leben ausgelöscht.

Die Augen blunterlaufen, Augen die Angst und Verzweiflung ausstrahlen. Ich will zu ihr rennen, doch es geht nicht. Es ist wie, als ob meine Füße im Boden verankert sind, sodass ich sie nicht in Bewegung setzen kann. Ich will ihr helfen, ich muss ihr helfen, aber es geht nicht. Mein Herz zieht sich bei ihrem Anblick zusammen, es zerfrisst mich, sie so zu sehen.

Mit einem Schlag wird es dunkel. Ein ohrenbetäubender Schrei schallt durch meine Ohren, sodass ich das Gefühl habe, dass mein Trommelfell gleich herausspringt. Ich kann diesem Schrei keinem zuordnen, er war schlicht und einfach schrill. Mit einem Wimpernschlag steht Lily nur wenige Millimeter vor mir und sieht mich mit einem trostlosen, schon beinahe toten Blick an.

Kein Leben, keine Freude nur Trauer und Angst kann ich herauslesen. "Wieso warst du nicht für mich da?" Selbst ihre Stimme gleicht der einer Leblosen. Monoton, leise, schwach.

"Ich wollte dir doch helfen!" Heiße Tränen rennen meine Wangen hinunter und die Versuche, ganze Sätze zu bilden, versagen kläglich. "Das wolltest du nicht. Du wusstest, was los war und dir war es egal. Ich wurde benutzt, ich wurde dafür benutzt, Geld für andere anzuschaffen, während du dein Leben mit Harry genossen hast! Was bist du nur für eine Freundin?"

Mein Herz zersplittert in tausend Stücke, als sie mit mir redet. Mir wird übel und ich habe das Bedürfnis zu kotzen. Ich fühle mich schlecht. Ich bin ein schlechter Mensch, ein verdammt schlechter Mensch.

Ich schreie und schreie und es scheint kein Ende nehmen zu wollen, als ich plötzlich spüre, wie eine Hand meine Schulter berührt. Mein Kopf schnellt in die Höhe, bevor dieser Kontakt mit etwas Hartem macht. Mit  schmerzverzerrtem Gesicht greife ich auf die pochende Stelle und versuche, mit ein bisschen Rubbeln die Schmerzen zu lindern. "Fuck!" Ich drehe mein Gesicht zu Harry, der sich ebenfalls seine Stirn hält.

"Ich wecke dich nie wieder auf, verdammte Scheiße ist dein Kopf hart!", stöhnt er  und rubbelt weiter, während er sein Gesicht verzieht.

Es war ein Traum. Es war nur ein Traum, der verdammt real war, weswegen ich vor Erleichterung zum Weinen beginne und ihm in die Arme falle. Ich kralle mich an ihn fest und merke, dass es ihn etwas überrascht. "Hey, ich wollte das nicht, es tut mir leid, dass du jetzt Schmerzen hast, bitte hör auf zu weinen!" Er klingt überfordert, während er seine Arme um mich schlingt und mich fest zu sich zieht. "Nein, nein!" Ich schluchze weiter und lasse meine Tränen freien Lauf, sodass sein Shirt schon nach wenigen Sekunden nass ist.

Sekunden der Stille folgen, als ich mich von ihm löse und in sein besorgtes Gesicht blicke. Seine Augenbrauen sind zusammengezogenen und er hat leicht seine Lippen geöffnet, wie jedes Mal, wenn er verwirrt ist. "Ich hatte einen Traum!" Ich stammle und atme hektisch. "Einen Traum?" Vorsichtig legt er eine Hand auf meinen Rücken, um darüber zu streicheln. "Beruhige dich. Was war das für ein Traum?"

"Es war so schlimm. Sie war da, sie sah so leblos aus und oh Gott, ich muss mit ihr reden, bitte fahr mich wieder zurück, ich halte es nicht mehr aus!" Ich rede schnell, viel zu schnell. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, nickt er und hilft mir aus dem Bett, damit wir so schnell wie möglich zur Uni zurückfahren können. Auf der Fahrt dorthin sammle ich einige Worte zusammen, die ich ihr sagen will, doch meine Gedanken sind so durcheinander, dass ich nicht einmal eins und eins zusammenzählen kann.

"Ich begleite dich!" Harry springt aus dem Wagen und folgt mir mit schnellen Schriten in mein Zimmer. Jedoch dringen laute Geräusche aus dem Zimmer. Als würde sich jemand streiten.

"Harry." Ich habe Angst, die eine Stimme kann ich Lily zuordnen, die andere auch. Eine Stimme, die ich eigentlich nie wieder in meinem Leben hören wollte.

Infinity |H. S.|Where stories live. Discover now