39. Kapitel

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39. Kapitel

"Harry, wieso sollte ich so schnell herkommen?", frage ich komplett außer Atem, weil ich gerade wie eine Verrückte zum Parkplatz, der in der Nähe des Wohnheimes steht, gerannt bin. Völlig verschwitzt bleibe ich stehen, stemme die Hände in meine Knie und versuche, nach Luft zu schnappen. Ich habe das Gefühl, dass ich gleich ersticke und kollabiere. 

Harry trägt heute ein schwarzes T-Shirt, darüber eine schwarze Lederjacke und dazu eine schwarze Skinny Jeans. Und jedes Mal frage ich mich: Wie kann jemand, der sich so einfach kleidet, nur so gut aussehen? Lässig lehnt er gegen einen schwarzen Wagen und ich runzle die Stirn. Hat er sich ein neues Auto gekauft? "Habe ich mich etwa gehetzt, weil du mir dein neues Auto zeigen willst?" Skeptisch ziehe ich eine Augenbraue hoch und bereite mich darauf vor, ihm eine Standpauke zu halten, wieso er mich wegen so einem Schwachsinn herholt.

"Eigentlich", beginnt er und stößt sich vom Auto ab. "Ist das deiner."

Mein angespanntes Gesicht fällt sofort und ich reiße meine Augen auf. "Wie meiner?" 

Sein Gesicht nimmt einen amüsierten Ausdruck an, als er einen Schlüssel aus seiner linken Hosentasche zieht und sie hin und her wedelt. "Mach mal eine Proberunde." Mit diesen Worten schmeißt er mir den Schlüssel zu, den ich gerade noch fangen kann. Erst jetzt realisiere ich, dass dieser Wagen tatsächlich mir gehört. 

"Du bist ein Arsch!", erwidere ich sein Geschenk und schlage ihm leicht gegen die Brust. "Ich habe dir ein Auto gekauft, damit du nicht mehr mit dem Bus zu deinen Kursen fahren musst, und du beschimpfst mich? Hat dir keiner Manieren beigebracht?" Meine Mundwinkel zucken leicht bei seiner Bemerkung. "Die Person, die Leute mit Ausdrücken beschimpft, von deren Existenz ich nicht einmal wusste, unterstellt mir, dass ich keine Manieren habe?"

Er sieht zu mir hinunter und grinst mich schelmisch an. "Genau." 

"Du hättest das nicht tun müssen!", lenke ich ein und sehe ihn an. "Ich wollte es aber. Nicht, dass du nachts im Bus von einem Psychopathen angegafft wirst."  Er legt seinen Kopf schief. "Nun mache jetzt deine verdammte Probefahrt, bevor ich dich höchstpersönlich auf die Windschutzscheibe klebe und so mit dir durch die Gegend fahre!", meint Harry und ich festige meinen Griff nun um die Schlüssel. 

"Danke", flüstere ich heiser und begebe mich auf die Fahrerseite. Harry setzt sich neben mich auf die Beifahrerseite und der Geruch von neuem Wagen steigt mir in die Nase. Kurz bevor ich das Auto starten kann, hält er mich zurück. "Schnall dich verdammt nochmal an", herrscht er mich an und ich greife nach dem Gurt. "Ist ja gut, Papi. Du brauchst mich ja nicht gleich so anzumachen!" Ich strecke ihm noch kurz die Zunge heraus und schnalle mich an, ehe ich das Auto starte.

Es hört sich toll an, wenn das Auto keine schnatternden Geräusche von sich gibt, sondern ganz normal klingt. Ich schalte in den nächsten Gang und schon rollt das Auto von seinem Platz und nähert sich der Straße. "Wow, ich liebe das Auto jetzt schon", gebe ich zu, obwohl ich noch immer nicht davon begeistert bin, dass er so viel Geld für mich ausgegeben hat. "Immerhin habe ich das Auto ausgesucht",  meint er selbstgefällig. "Du brauchst dich jetzt nicht selber loben", kommentiere ich und reihe mich in den Verkehr ein. Jedoch habe ich leichte Anfangsschwierigkeiten mit dem Wagen, da dieser mit der neuesten Technologie ausgestattet ist und mein altes Auto war eins aus dem Baujahr 1990. 

Ich bin ganz klar überfordert mit dem Schnickschnack. Ich drücke irgendwelche  Knöpfe, die mich total vom Fahren ablenken. Plötzlich schießt aus einer Öffnung ein Plastikbecher heraus, der kurz daraufhin mit einer braunen Flüssigkeit gefüllt wird. Ein vertrauer Geruch steigt mir in die Nase. 

"Das Auto hat eine eingebaute Kaffeemaschine?", frage ich völlig überrascht und versuche mich wieder zu konzentrieren. "Ich wüsste nicht, woher der Kaffee sonst herkommen sollte", antwortet er amüsiert und ich schnaufe genervt. "Tut mir leid!", erwidere ich theatralisch.

Auf der Fahrt versuche ich, das Auto noch besser kennenzulernen. Nach und nach entdecke ich neue Funktionen und ich fühle mich gerade wie eine Großmutter, die versucht ihrer Enkelin eine Whats App Nachricht zu schreiben. 

Ich halte an und lasse meine Finger noch über das Lenkrad gleiten. "Ich werde mich nie mit dem Auto auskennen, das ist mir viel zu kompliziert", stöhne ich verzweifelt und lasse meinen Kopf schlussendlich auf den Lenker fallen. Ich spüre, wie er seine Hand auf meinen Hinterkopf legt und darüber streichelt. "Irgendwann lernst du das schon. Sei froh, dass du mit dem Teil hier noch keinen Unfall gebaut hast, der war schweineteuer!"

"Och danke, ich fühle mich gleich besser!", antworte ich und steige aus, was mir Harry gleich tut. "Wollen wir ein bisschen spazieren gehen?" Ich deute mit meinem Kopf auf den Weg vor uns und er schlendert neben mir her, bis wir an dem See ankommen, wo wir schon einmal waren. Es ist dunkler geworden, die Sterne funkeln am Himmel und auch die Luft ist dementsprechend frischer. 

"Kann ich jetzt daraus schließen, dass dir das Auto auch wirklich gefällt?", bricht Harry die Stille, die seit unserem kleinen Spaziergang herrscht. Ich bleibe stehen und drehe meinen Kopf in seine Richtung, was auch er tut. Die rechte Hälfte seines Gesichts wird vom Mondschein erhellt und kann kaum beschreiben, wie engelsgleich er aussieht. Seine leichten Bartstoppeln werden ebenfalls erleuchtet und mir wird bei seinem Anblick sofort warm ums Herz. 

"Grace?" Er schnippt mit seinen Fingern vor meinem Gesicht herum und reißt mich aus meiner Trance. "He was?" Völlig weggetreten registriere ich meine Umwelt wieder. "Tut mir leid, was hast du gesagt?"

Er runzelt seine Stirn. "Ist alles in Ordnung mit dir?"

"Klar, wieso sollte nicht alles in Ordnung mit mir sein?"

"Du bist so abweisend." Plötzlich beginne ich zu frösteln, da ein starker Luftzug die Landschaft durchzieht. "Hey, du zitterst ja." 

Kurzerhand zieht er sich seine Jacke aus und legt sie mir über die Schultern. Er stellt sich wieder vor mich und zieht die Jacke näher um mich. Den Stoff der Jacke hält er unter meinem Kinn fest, damit sich dieser nicht löst und unsere Blicke treffen sich. Dadurch, dass er zu mir hinunterschauen muss, fallen seine Locken über seine Stirn, aber es scheint ihn nicht zu stören. 

Ich spüre seinen warmen Atem auf meine Lippen abprallen, während ich seinen lieblichen Geruch in mich aufsauge. Eine Hand löst sich vom Stoff der Jacke, die er sanft auf meine Wange platziert. Ich habe das Gefühl, dass du Luft noch dünner wird, als er seine Stirn auf meine legt und mir noch tiefer in die Augen blickt.

Mein Herz hat noch nie so stark gepocht, wie gerade eben. Ich könnte für immer in dieser Position verweilen. Ich fühle mich geborgen, beschützt und wohl. Einfach erfüllt. Wie habe ich es all die Jahre nur ohne diesem Gefühl ausgehalten?

"Grace, du bringst mich um den Verstand", flüstert er heiser und schluckt. "Ich weiß nicht, wie du das machst, aber es macht mich verdammt fertig", setzt er fort und kommt mir immer näher. "Ich kann mich nicht mehr länger von dir fernhalten." 

Ich halte seinem starren Blick stand, bis ich antworte. "Dann tu es nicht."

Im nächsten Moment spüre ich seine weichen Lippen auf meinen. 

Und da knutschen sie

Infinity |H. S.|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt