18. Kapitel

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18. Kapitel

Langsam nicke ich und verdeutliche ihm, dass ich ihm zuhören werde.

Plötzlich erfüllt mein Körper eine eisige Kälte. Ich weiß nicht, ob es an der Stimmung oder an den Außentemperaturen liegt, jedoch ist es nicht besonders angenehm.

"Du hast mich heulen gesehen, also kann ich dir auch gleich von meiner abgefuckten Vergangenheit erzählen", lacht er abwertend, doch ich lache nicht, ich bleibe ruhig.

"Das ging schon die ganze Zeit so, auch als wir Nachbarn waren. Mein Dad war unser schlimmster Alptraum. Nach außen hin hat er den lieben, netten Familienvater gespielt, aber was sich hinter verschlossenen Türen abgespielt hat, wussten nur meine Mutter, mein Vater und ich. Du warst der einzige Lichtblick in meinem Leben, bei dir war ich immer so unbeschwert, weißt du? Auf jeden Fall hat mein Vater viel getrunken und meine Mutter vor meinen Augen geschlagen. Er hat mich immer als nutzloses Kind bezeichnet und hat mir immer an den Kopf geworfen, dass ich für die Familie nur eine Last sei. Wenn ihm etwas nicht gepasst hat, gab es eine Ohrfeige."

Bei seinen Worten bekomme ich eine Gänsehaut und ich muss mich beherrschen nicht loszuheulen. Und ich habe davon nichts bemerkt?

"Meine Kindheit war die Hölle. Manchmal habe ich mir gewünscht so eine Familie wie du zu haben, deswegen war ich ja immer so lange bei dir, weil ich es daheim einfach nicht ausgehalten habe. Wäre meine Mama nicht gewesen, dann wäre ich schon längst abgehauen. Meine Mama war eine gute Person, sie hat so einen Mann wie ihn nicht verdient, sie hätte etwas Besseres verdient. Als du dann weggezogen bist, war ich am Boden zerstört. Ich habe mich im Stich gelassen gefühlt, aber du konntest es ja nicht wissen.
Als ich 13 war, hat er meine Mama im betrunkenen Zustand angefahren und umgebracht."

Geschockt schnappe ich nach Luft und greife automatisch nach seiner Hand. Er zieht sie nicht weg, er lässt sich von mir anfassen. Ich drücke sie leicht, ehe er mit dem Sprechen fortfährt.

"Ich bin dann abgehauen und es hat ihn nie gekümmert, wo ich war, Hauptsache er konnte weitersaufen. Nicht einmal um Mama hat er getrauert, ihm war es so dermaßen scheißegal." Seine Hand bildet sich zu einer Faust und er spannt seinen gesamten Körper an.

Ich bringe kein Wort heraus. Ich bin viel zu geschockt, über das, was er mir gerade offenbart hat. Sein Vater, von dem ich eigentlich einen positiven Eindruck hatte, war ein saufendes Arschloch und ich habe es nicht bemerkt. Ich war eine schlechte beste Freundin.
Harry hat sogar seine Mutter wegen seinem bestialischen Vater verloren und bei dem Gedanken bilden sich erneut Tränen in meinen Augen, die ich versuche zu verdrängen, aber vergebens. Der Kloß in meinem Hals wird größer und ich schließe für einen Moment die Augen.

"Es tut mir so leid", hauche ich mit zittriger Stimme in die Dunkelheit. Sein Kopf schellt in meine Richtung.

"Weinst du?" Nun legt er seine andere Hand auf meine und streichelt sanft über diese. Ein kurzer Stromschlag durchfließt meinen Körper, als seine warme Hand meine kalte überdeckt.

"Du hast so viel durchlebt und ich war nicht da. Ich war eine schlechte beste Freundin. Es tut mir so leid, Harry, wirklich, es tut mir so leid." Nun strömen mir die Tränen der Wut und Trauer die Wange hinunter und ich kann es nicht aufhalten. Kein Kind auf der Welt hat es verdient, so eine Kindheit zu haben.

"Hey, es ist nicht deine Schuld." Seine Stimme ist nun sanft und einfühlsam. Seine Hände wandern zu meinen Wangen, wo sie die Tränen wegwischen. Ich kann mich nicht beherrschen und falle ihm einfach in den Arm. Mir ist es egal, ob er sich darauf einlassen will oder nicht, ich habe einfach das Bedürfnis ihn in den Arm zu nehmen.

Überraschend stelle ich fest, dass er sich darauf einlässt und auch seine Arme um mich schlingt. Seine Hände wandern meinen Rücken entlang und versprühen eine gewisse Wärme in mir. "Danke, dass du hergekommen bist", flüstert er gegen meinen Nacken.

"Kein Ding." Mein Blick wandert zur riesigen Keramikuhr an der Wand und ich springe panisch auf. "Ich muss wieder heim, ich habe morgen Kurse." Ich greife nach meiner Jacke und ziehe sie mir über. Ich bemerke, wie Harry etwas verletzt schaut. "Kannst du nicht noch länger hier bleiben?"

"Du würdest wollen, dass ich länger bei dir bleibe?" Die Überraschung in meiner Stimme ist kaum zu überhören.

"Es ist schon dunkel."

"Ja, das sehe ich, deswegen wollte ich ja gerade gehen."

"Du kannst hier schlafen, wenn du willst", bietet er mir an, während ich mir meinen Schal umbinde. Ich würde noch wahnsinnig gerne hier bleiben und mit ihm reden, aber ich muss zurück.

"Nein danke, aber wir können uns gerne irgendwann anders wieder treffen, ok? Ich bin wahnsinnig müde und habe morgen einen anstrengenden Tag an der Uni. Du kannst mich anrufen, wenn du willst." Mit diesen Worten öffne ich die Tür und gehe zu Mikes Auto.

"Neuer Wagen?" Ich drehe meinen Kopf in die Richtung, woher die Frage kam und lache kurz auf. "Nein, nur ausgeliehen. Irgendwie musste ich ja herkommen."

Sogar aus der Ferne kann ich seine Grübchen sehen. "Fahr vorsichtig", ruft er und ich steige ein. Langsam fahre ich von seinem Grundstück weg und drehe das Radio auf, wo Ed Sheeran sanfte Töne erklingen lässt. Meine Gedanken wandern zu seinen Offenbarungen seiner Kindheit. Ich glaube, das mich das für die nächste Zeit nicht mehr loslassen wird, denn immerhin habe ich das nicht gemerkt und ich habe direkt im Haus nebenan gewohnt.

Er wollte heute, dass ich länger bleibe. Klar, haben wir uns heute mehr angenähert, aber wo ist der Harry hin, der mich immer dumm angemacht hat, weil er dachte, dass ich ihn stalke? Der total harte Boxer, der nichts und niemanden an sich ranlässt? Ich denke, dass ich einer der wenigen bin, die ihn so zerbrechlich gesehen hat. Nachdem mir Lily von seinem Image erzählt hat, sieht es wohl so aus, als ob die ganze Welt denken würde, dass er keine sensible Seite hat, sondern eine eiskalte Gestalt sei. Ich muss schon zugeben, dass ich es ziemlich süß von ihm fand, dass er wollte, dass ich länger bleibe.

Ich komme beim Campus an, stelle Mikes Wagen auf seinem alten Platz und gehe wieder zurück in mein Zimmer, wo sich Lily gerade bettfertig macht.

"Junge Dame, wo warst du denn? Etwa bei einem gewissen Harry Styles?" Sie wackelt wie immer mit ihren Augenbrauen und ich schmeiße meine Tasche auf mein Bett.

"Jap, war ich." Ich ziehe mir den Pullover aus und schlüpfe in meine Schlafsachen, woraufhin ich in meinem Bett liege. "Was habt ihr gemacht?", fragt Lily, als auch sie sich aufs Bett schmeißt. Ich werde ihr definitiv nicht von Harrys Zusammenbruch von heute erzählen, auch wenn sie meine beste Freundin ist. Ich bin mir sicher, dass Harry nicht wollen würde, dass jemand anderer davon erfährt.

"Wir habe nur ... geredet", murmle ich und stecke mein Handy an.

"Geredet", spottet sie und hustet in ihr Kissen.

"Lily", stöhne ich auf und werfe sie mit einem Kissen ab. Manchmal kann sie echt dumm sein.

Auch dieses Bild wurde von @articulateme gemacht! Danke dafür :)


Infinity |H. S.|Where stories live. Discover now