Kapitel 67

545 24 8
                                    

Kapitel 67

Marie lag im Bett und wartete. Sie hatte sich wie immer auf die Seite gelegt, das Nachtlicht beinahe ganz runtergedämmt und schaute Richtung Wiege. Emil schlief. Sie hatte ihn gestillt und gewickelt. Zumindest für die nächsten zwei Stunden dürfte er satt und zufrieden sein. Aber jetzt wartete sie. Sie musste aufpassen, dass ihr die Augen nicht zufielen, denn dann funktionierte es nicht. Und sie brauchte ihn heute. So dringend. Sie nahm ihr Smartphone vom Nachttisch, stellte es lautlos und sah die Nachrichten, die über den Tag eingetroffen waren. Am Morgen hatte sie Fotos von Emil nach Berlin geschickt, wie so oft. Felix' Familie freute sich immer darüber. Sie musste überlegen, wann sie hinfahren würde. Nicht allein. So eine Reise mit einem Baby war stressig. Sie musste sehen, wer Zeit hatte. Julian würde sie auch abholen, hatte er gesagt.

Sie legte das Handy wieder weg und schaffte es einigermaßen, das dunkelblaue Kästchen auf dem Nachttisch zu ignorieren. Dann drehte sie sich auf den Rücken und auf die andere Seite. Zögernd griff sie nach dem Kopfkissen, zog es zu sich, roch daran. Es wurde schwächer. Aber sie hatte sein Shampoo, sein Deo, sein Parfum. Das würde ihr noch eine ganze Zeitlang weiterhelfen, hoffte sie. Sie sog den Geruch ein und eine seltsame Mischung aus leichtem Schwindel und Traurigkeit überkam sie. Umgehend riss sie die Augen weit auf, weil sie jetzt nicht weinen wollte. Das Kissen schob sie zurück an die richtige Stelle, ehe sie sich wieder umwandte und erneut zur Wiege schaute. Sie wartete. Emil schlief. Irgendwann würde sie anfangen, ihm Aufnahmen von seinem Vater vorzuspielen. Felix' Stimme würde er immerhin kennen. Tommi. Der hatte gefragt, ob er Emil mal kennenlernen könnte. Natürlich, in ein paar Wochen, hatte Marie geantwortet. Wenn sich alles etwas eingespielt hatte. Tommi war emotional gewesen am Telefon, überfordert. Aber wer war das nicht gewesen, in dieser Situation? Familie, Freunde, alle fassungslos, alle sprachlos. Als ob das alles nicht wahr wäre. Nicht wahr sein könnte.

Endlich war er da. Marie blinzelte, als sie Felix neben der Wiege stehen sah. Er beugte sich über Emil, lächelte. Der Kleine schlief weiter. Aber Felix war ja auch still. Wie immer. Dann schaute er auf und sah Marie an. „Hey", murmelte sie. Sie war nicht dumm. Sie wusste, dass Felix nicht wirklich da war. Aber irgendwie ja doch. Im Krankenhaus war er das erste Mal aufgetaucht, nach der Geburt, als sie ausgeschlafen hatte und Emil und sie alleine im Zimmer gewesen waren. Sie hatte gewusst, was passiert war. Das hatte sie schon an jenem Morgen, als sie Felix nicht hatte erreichen können. Es war alles so vollkommen unmöglich gewesen. Unmöglich, dass so etwas passierte, dass er einfach gegangen war, nicht mal vierundzwanzig Stunden, bevor sein Sohn geboren werden sollte. Einfach nicht mehr aufgewacht. Niemand hatte es ihr sagen müssen. Sie hatte es gewusst, es gespürt. Und dann war das, was sie im Krankenhaus erst noch als falschen Alarm bewertet hatten, doch ganz schnell zu echten Wehen geworden. Das hatte alles eingenommen, ihr ganzes Denken, Fühlen, Handeln. Marie erinnerte sich an die Geburt. Aber irgendwie wirkte es jetzt auch schon so weit weg. Und dann danach. Alles war echt gewesen, alles wahr. Ihr Baby war da, ihres und das von Felix. Aber Felix war nicht da. Dennoch hatte sie auf ihn gewartet, darauf gewartet, dass sich das alles doch noch als Missverständnis herausstellen würde. Und dann war er da gewesen. Alles Fantasie, alles Einbildung. So wie jetzt.

„Das mit der Kette ist süß", sagte Marie. „Und er liebt beide Kuscheltiere: den Panther und den Pinguin. Danke, ja?"

Felix sah sie an und lächelte.

„Dein Sohn mag Rap. Aber ich spiele ihm keine indizierten Songs vor, damit das klar ist."

Felix grinste breit.

Marie atmete durch. „Gott, ich wünschte, ich wäre besser in so was. Ich hab so viel Fantasie. Ich könnte dich hier auf einem Drachen einreiten lassen, ja? Aber ich schaffe es nicht, dich reden zu lassen." Auf einmal stiegen ihr Tränen in die Augen, sie schluchzte und alles verschwamm vor ihr. „Ich wünschte, du wärst hier, bei uns." Sie verstand sich selbst kaum, ihre Stimme war hoch und ihre Nase zu, weil die Tränen alles überfluteten.

Quite Suddenly (Felix Lobrecht FF)Where stories live. Discover now