Kapitel 2

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Kapitel 2

Sie döste viel, lag im Bett, hörte auf ihren eigenen Herzschlag. Die Müdigkeit, die sie schon die gesamten Feiertage begleitete, war ihr willkommen. Meistens hörte sie, während sie unter der dicken Decke vor sich hindämmerte, keine Musik, kein Hörbuch, keinen Podcast. Alles, was sie hörte neben ihrem eigenen Puls waren der Wind, der um das Haus strich, ab und an ein paar Möwen oder weiter entfernt Motorengeräusche.

Als ihre Gedanken an diesem Tag klarer wurden und ihr Magen zu knurren begann, stand sie auf. In der kleinen Küchenzeile im Wohn- und Essbereich des kleinen Häuschens bereitete sie sich ihr Frühstück aus Müsli und Obst zu, setzte sich damit auf die Couch und starrte hinaus, während sie aß. Es war grau draußen, die Landschaft flach. Aber in der Ferne war der Wald zu erkennen, den sie nachher durchqueren würde, um ans Meer zu gelangen.

Sie spülte, trocknete das Geschirr ab und schaute dann auf ihr Handy, das sie, seit sie hier war, meist im Flugmodus hielt. Sie änderte den Modus jetzt und legte es kurz auf den Tisch, bis mögliche Nachrichten eingegangen waren. Sie brauchte diese Zeit, um sich zu wappnen. Dann nahm sie es wieder. Da waren Anrufe. Nur von ihm. Er hatte ihr sogar SMS geschrieben. Sie klickte drauf, las sie kurz durch, ebenfalls die WhatsApp-Nachrichten, die er ihr geschickt hatte. Sie konnte ihn nicht blockieren. Es ging einfach nicht. Aber sie musste nicht darauf reagieren.

Ihre Familie versorgte sie mit Fotos vom Weihnachtsfest. Kurz schmerzte es Marie. Aber es war besser so. Eine Nacht hatte sie in Berlin in einem Hotel verbracht und überlegt, nach Hause zu fahren. Aber sie brauchte jetzt Ruhe und Zeit für sich. Deswegen hatte sie das Ferienhäuschen an der Ostsee herausgesucht.

Mama: Rufst du heute Abend kurz an? Du musst auch nicht reden, ich will nur wissen, dass du da bist.
Marie: Mach ich.

Sie legte das Handy wieder weg, ehe sie ins Schlafzimmer ging, um sich anzuziehen. Sie öffnete den Schrank und nahm sich Kleidung. Im untersten Fach lag ihr Rucksack. Sie musste daran denken, wie sie in jener Nacht ganz früh am Morgen, als sie sich sicher sein konnte, dass er schlief, ihre Sachen gepackt hatte. Nicht viel, nicht alles, nur das Wichtigste. Sie hatte Angst gehabt, dass er aufwachen könnte. Aber er hatte geschlafen wie ein Stein.

Im Flur zog sie sich Mantel und Stiefel an und ging dann hinaus. Der Wind war heftig, aber gut. Sie zwang sich jeden Tag zu einem solchen Spaziergang und wusste nicht, ob dieser ihrer Müdigkeit eher zu- oder abträglich war. Es tat ihr jedenfalls gut. Sie folgte dem Trampelpfad zu den Bäumen. In dem kleinen Waldstück fühlte sie den Wind nicht mehr so stark, auch wenn die kahlen Äste über ihr sich heftig bogen. Dann verließ sie den Wald und sah das Meer vor sich. Es war ruhiger als gedacht, nur kleine, regelmäßige Wellen, die aber dennoch voller Gischt waren. Sie entschied sich heute für links und stapfte los, fast hinunter bis ans Wasser, aber nur so weit, dass die Steine noch trocken waren. Es war etwas anstrengend, auf dem unebenen Grund zu laufen, aber genau das brauchte Marie. So musste sie sich auf etwas anderes konzentrieren, während der Wind ihr die Gedanken zublies, die sie nicht denken wollte. Aber sie wusste, dass sie sich ihnen nicht dauerhaft würde verweigern können. Und hier draußen kam sie besser damit klar, als wenn sie alleine in diesem fremden Bett lag.

Marie!" Seine Stimme in ihrem Kopf. Sie sah sein Gesicht vor sich, aber die Erinnerung spielte ihre Streiche. Sie wusste nicht mehr, wie es ausgesehen hatte in jener Nacht. War da Schmerz gewesen, Wut oder ein schlechtes Gewissen? Vielleicht war er auch einfach überrascht gewesen, enttäuscht, dass er aufgeflogen war. Vielleicht hatte Mitleid für sie in seinen Augen gelegen.

Sie sah ihn ins Schlafzimmer kommen und diese Frau küssen, diese andere Frau, nicht sie, nicht Marie. Aber er küsste sie so, dass Marie unweigerlich denken musste, dass er diese Frau genau so küsste, wie er sie immer geküsst hatte. Seine Hände an ihrer Taille, genau so, wie sie an Maries Taille gelegen hatten. Genau so hatte es bei ihnen wohl ausgesehen, wenn sie sich geküsst hatten, wenn sie Verlangen nacheinander verspürt hatten. Es hatte sich so echt angefühlt, wenn er sie geküsst hatte, so ehrlich, so als ob das nur ihnen gehörte. Marie hatte gedacht, dass sie das teilen würden miteinander. Nur miteinander. Aber so war es nicht. So war es nicht gewesen.

Quite Suddenly (Felix Lobrecht FF)Kde žijí příběhy. Začni objevovat