Kapitel 34

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Kapitel 34

Backbord war eine aufkommende Unruhe zu bemerken. Als Marie und Felix sich umdrehten, teilte Karl gerade mit, dass sie sich den Seehundbänken näherten. Marie ließ sich vom Kajütendach gleiten und lächelte Felix an, ehe sie sich einen Platz weiter am Bug des Schiffes suchten und wie alle anderen auf dem Schiff in die Ferne schauten. Erst waren die Tiere nur als dunkle Flecken zu erkennen, die auch Steine hätten sein können. Aber bald wurde deutlich, dass es tatsächlich Seehunde auf einer Sandbank waren. Das Schiff navigierte etwas näher, sodass man bald auch ein paar Details erahnen konnte. Marie legte eine Hand auf die Reling, weil der Wellengang doch recht deutlich war. Sie fragte sich, ob sie wegen der immer dunkler scheinenden Wolken Bedenken haben sollte.

„Und? Wie findest du die?" Felix stand halb hinter ihr, redete nah an ihrem Ohr, um gegen den Lärm des Motors und des Windes anzukommen.

„Hm?" Marie kribbelte es im Nacken, auf eine angenehme Weise. Sie hatte ihn verstanden, aber sie brauchte einen Moment. Sie hatte so etwas wie ein Déja-Vu überkommen, nur dass sie es mehr fühlte als sah. Felix war ihr nah, ihre Jacken berührten sich wohl. „Wieso? Ich glaube, die sind ganz niedlich."

„Magste lieber als Seelöwen, wa?" Felix lachte.

Marie spürte den Luftzug seines Atems und musste ebenfalls lachen, auch, weil es sie kitzelte. „Ich schätze schon, ja. Sind jetzt ja noch ziemlich weit weg, aber die sieht man hier ja überall, also auf... Fotos und... Nordsee-Merch. Und... ja, schon süß irgendwie. Und sind ja keine Pinguine in der Nähe, denen die gefährlich werden könnten."

„Ich glaub, da sind auch Kleine dabei, wa? So... Heuler. Hab och mal einen aus der Nähe gesehen, is lange her. Und die ham da echt null gefährlich auf mich gewirkt. Aber sind schon Raubtiere, wa?"

„Hm, kann sein." Marie nickte, griff auch mit der anderen Hand nach der Reling, weil das Schwanken ihr gerade stärker erschien. Aber vielleicht lag das nur an der Aufregung, die sie in sich verspürte. Wegen der Nähe. Und weil ihr der Moment so surreal und gleichzeitig so wahnsinnig echt vorkam. „Aber die essen ja nur Fisch. Da besteht wohl keine Gefahr für uns."

„Yo. Und ick pass ja eh auf dich auf. Auf euch."

Sie spürte plötzlich seine Hand an ihrem Rücken. Sie vergaß einen Moment zu atmen, oder vielleicht nahm ihr eine Böe auch die Luft dazu. Aber dann ging es wieder. Sie musste lächeln und traute sich nicht, sich zu rühren. Sie schaute auf die Seehundbank, aber eigentlich fühlte sie nur. Ein leichter Regen hatte eingesetzt. Sie zog die Kapuze hoch. Es war gut. Es war völlig in Ordnung so, wie es war.

Nachdem das Schiff sich wieder von den Seehunden entfernt hatte, gingen Felix und Marie zurück. Der Wind war kälter und heftiger geworden. Der Regen ebenso. Es prasselte inzwischen. Statt sich wieder auf das Dach zu ziehen, lehnte Marie sich nur daran, stützte sich mit beiden Händen ab. Plötzlich machte das Schiff einen Satz und gleichzeitig blies der Wind auf einmal ohne jede Unterbrechung, steif aus einer Richtung. Marie drehte sich, so dass sie den Wind im Rücken hatte. „Ist das normal?", fragte sie Felix und schüttelte den Kopf, um die Strähnen loszuwerden, die in ihrem Sichtfeld wirbelten.

„Glaub ick nich." Er stand vor ihr, eine Hand erhoben, so als wäre er bereit, jederzeit zuzupacken.

„So", sagte auf einmal eine Stimme neben ihnen. „Dann nehmen Sie jetzt besser mal Ihre Frau. Ab unter Deck!"

Marie wandte sich um, blinzelte in den Wind, der ihr den Atem nahm. Es war der Seemann, der sie vorhin in Empfang genommen hatte. Er lächelte freundlich und wies in Richtung der Luke zur Kajüte, die einer seiner Kollegen gerade öffnete. Marie folgte Felix, der vor ihr auf die Treppe stieg. „Vorwärts runter", wies ihn der Seemann an, der eher fröhlich als besorgt wirkte, was Marie für den Moment etwas beruhigte. Felix folgte den Anweisungen. Marie wartete, bis er die Hälfte der Treppe hinuntergestiegen war, ehe sie ihm folgte. Es war steil, eigentlich mehr wie eine Leiter. Sie schaute nach unten, sah, dass Felix zu ihr hinaufschaute. Als er unten angekommen war, wartete er, legte seine Arme an die Handläufe. Marie schaute vor sich, setzte den Weg nach unten fort, ließ ihre Füße vorsichtig jede nächste Stufe nehmen. Es schwankte weiterhin alles. Felix streckte ihr beide Hände entgegen und Marie ergriff sie für die letzten drei Stufen. Er ließ sie nicht los, führte sie in eine Ecke. Es gab hier unten zwei lange Tische mit Bänken daran. Sie setzten sich und Marie war froh, denn irgendwas hatte sie doch gerade geängstigt. Es war eine seltsame Mischung in ihrem Bauch. Nicht nur Angst, auch eine fast angenehme Aufregung, als wäre das hier alles ein Abenteuer. Was es vielleicht tatsächlich war. Sie saß neben Felix am schmalen Ende eines Tisches und nahm nur vage wahr, wie es unter Deck immer voller wurde. Nach und nach kamen alle Passagiere den Niedergang herunter und auch der Großteil der Besatzung. Einer, der Älteste der Seemänner, wenn man seine weißen Haare und die wettergegerbte Haut als Maßstab nahm - machte sich an dem kleinen Gasherd zu schaffen.

Quite Suddenly (Felix Lobrecht FF)Where stories live. Discover now