Kapitel 61

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Kapitel 61

Sie wollte weiterschlafen, aber sie wusste, dass das nicht klappen würde. Mit einem genervten Brummen öffnete sie die Augen, tastete blind nach dem Nachtlicht und schloss die Augen gleich wieder, weil es einfach zu hell war. Sie drehte sich auf den Rücken, ließ den Arm zur Seite fallen, strich über die Bettdecke, die dort lag. Felix' Decke. Sie hatte sie einfach liegen lassen. Sie drehte sich etwas mehr zur Seite, bekam das Kopfkissen zu fassen, zog es zu sich und roch daran. Felix. Es roch nach Felix. Übermorgen würde er wieder hier sein. Sie ließ das Kissen los, drehte sich wie in Zeitlupe um und öffnete währenddessen wieder die Augen. Alles war verschwommen. Sie setzte sich auf die Bettkante und wartete darauf, dass sie etwas klarer sah. Auch ohne Brille oder Kontaktlinsen sollte ihre Sicht eigentlich besser sein als gerade. Sie rieb sich über die Augen, die sich geschwollen anfühlten. Na gut, sie war auch wirklich im Tiefschlaf gewesen. Sie hatte gar keinen Bock aufzustehen. Aber sie wollte auch nur äußerst ungern ins Bett pinkeln. Sie riss die Augen weit auf, bewegte die Schultern vor und zurück. Sie musste nur wach genug sein, um ins Bad zu kommen, das war alles. Langsam stand sie auf. Okay, kein Schwindel. Sie ging ins Bad, schloss die Augen, als sie auf der Toilette saß. Nein, hier einzuschlafen war keine gute Idee. Als sie sich die Hände wusch, schaute sie sich im Spiegel an und erinnerte sich daran, zu lächeln. Vogelscheuche. Zumindest dürfte es ihr nicht schwerfallen, wieder einzuschlafen. Sie zwang sich, die Augen offenzuhalten und ging zurück ins Schlafzimmer, setzte sich aufs Bett, zog die Beine hoch. Sie nahm ihr Smartphone, um zu sehen, wie spät es war. Zwei Uhr. Und da waren Nachrichten. Sie hatte das Handy lautlos gestellt. Nachrichten. Sie zögerte, entsperrte ihr Smartphone aber dann. Felix hatte versucht, sie anzurufen. Sofort spürte sie ihren Herzschlag. Felix. Und Julian auch. Julian? Der hatte ihr auch eine Sprachnachricht geschickt.

„Hey Marie, fuck, ey, tut mir so leid, du pennst sicher schon, aber wenn nicht, kannst du bitte, bitte auf Felix' Anrufe reagieren? Oder ihm zumindest ne Nachricht schicken, sobald du morgen wach bist oder so? Scheiße, der dreht mir sonst hier noch durch und... ich will nicht, dass der...äh... ja, also meld dich mal, ja? Äh... aber mach dir keine Sorgen, ich pass schon auf ihn auf, ja?"

Marie starrte auf ihr Handy. Was zur Hölle? Sie hörte sich die Nachricht noch mal an. Aber irgendwie ergab das keinen Sinn für sie. Julian sprach wirr, oder? Und irgendwie klang er anders als sonst. Irgendwie aufgedreht, aber auch langsam. Alkohol. Ja, das könnte sein. Marie nahm ihr Wasserglas und leerte es. Sicher musste sie so spätestens in einer halben Stunde wieder aufs Klo. Egal. Sie war langsam wacher. Gut. Sie rief Felix an. Oder versuchte es vielmehr. Er ging nicht ran. Wo war er? Die versuchten Anrufe, die Nachricht von Julian, das alles war innerhalb der letzten halben Stunde passiert. Was konnte los sein? Heute am frühen Nachmittag hatten sie noch telefoniert. Felix war da gerade auf dem Sprung gewesen, hatte ins Büro fahren wollen. Und seine Kumpels hatten ihm gesagt, dass sie ihn da später abholen wollten. Die Überraschungs-was-auch-immer-Feier, die Felix erahnt hatte. Vermutlich waren sie in irgendeine Bar gegangen mit ihm. Vielleicht auch vorher nach Hause zu einem von ihnen. Wobei sie am liebsten immer bei Felix den Abend begonnen hatten. Aber da der ja der Überraschte war, hatten sie vermutlich eine andere Möglichkeit gesucht und gefunden. Hatte Julian gesagt, er würde auf ihn aufpassen? Warum? Warum musste er das? Marie fühlte ein kaltes Brennen in ihrem Bauch. Sie wollte nicht darüber nachdenken. Darüber, was Felix ihr versprochen hatte. Und darüber, dass er seinen Bruder davon entbunden hatte, sich schützend vor ihn zu stellen, sollte er Marie jemals wieder... Nein! Nein, das konnte es nicht sein.

Sie versuchte noch mal, Felix anzurufen. Nichts. Sie begann, eine WhatsApp zu schreiben, als Felix zurückrief. Sie ging sofort ran. „Hey!", sagte sie und es klang ängstlicher als beabsichtigt. „Was ist denn los? Ist was passiert?"

„Hey! Warte mal, ja, dit is hier echt..."

Sie hörte nicht mehr wirklich, was er sagte, aber da waren Musik und Stimmen, ein Rauschen, ein Rumms, wieder Stimmen. Dann war es ruhiger. „Felix?", fragte sie.

„Ja... hey."

Es war Stille in der Leitung. Stille und nur ihr Herz, das klopfte. Einatmen, ausatmen. „Felix? Was ist? Was ist los?"

„Babe..."

Marie wartete darauf, dass er weitersprach, aber da kam nichts, gar nichts. Vielleicht waren es die Nacht und der mangelnde Schlaf, aber sie hatte noch nie erlebt, dass die Angst sie so dermaßen überwältigte. Es war als ob sich eine kalte Decke über ihre Schultern legte und sie niederdrücken wollte. Sie begann zu zittern. Nein, jetzt nicht. Sie konnte das nicht. Nicht jetzt. Sie legte die freie Hand auf ihren Bauch. „Felix? Bitte nicht. Sag mir nicht, dass... ganz ehrlich? Ich will das nicht wissen. Nicht jetzt. Lüg mich an oder lass es einfach sein, spar es dir auf bis morgen. Das kann jetzt nicht dein Ernst sein, dass du keine zwei Tage weg bist und du deine Finger und was weiß ich noch nicht bei dir behalten kannst, ja?" Sie hörte, wie sich ihre Stimme überschlug, ihr Hals fühlte sich kratzig an, so als würde sie Felix seit einer Stunde anbrüllen, auch wenn sie nicht brüllte, sondern eher atemlos flüsterte. „Ich glaub das einfach nicht!"

„Was? Fuck, Babe, nein!" Felix war viel zu laut.

Marie hielt das Smartphone weg. „Was?", fragte sie schließlich skeptisch.

„Fuck, nein. Einfach... nein." Jetzt klang er so leise, dass Marie ihn kaum noch hören konnte.

„Felix?", fragte sie, als er wieder länger schwieg als sie ertragen konnte. „Was ist los?"

„Hab'n bisschen zu viel getrunken", murmelte er.

„Ja, das hab ich mir gedacht." Dunkel erinnerte Marie sich an ein anderes Mal, als er sie betrunken angerufen hatte. „Du bist nicht alleine, oder? Julian ist bei dir? José, Elvis, die Jungs?"

„Klar sind die hier. Oder waren."

„Felix, was ist los?" Marie atmete aus. Ihr Herz schlug noch immer zu schnell.

„Hast doch eben gesagt, ick soll bis morgen warten", sagte er leiernd.

„Jetzt kann ich eh nicht mehr schlafen. Was ist denn passiert, dass du mich unbedingt anrufen musstest, mitten in der Nacht? Ich... fuck, Felix, sag mir bitte nicht, dass du... mit irgendeiner Frau..." Sie konnte nicht weiterreden. Und dass Felix nicht sofort antwortete, machte es nicht besser. „Felix?"

„Bin betrunken", wiederholte er. „Aber ich wollte das nicht, echt."

„Was wolltest du nicht?", hakte Marie tonlos nach.

„Na, ich... Nein! Hab ick nich. Nein! Jetzt nich! Habt ihr den Arsch offen oder was?"

Irritiert hielt Marie erneut das Handy weiter weg. Dass die letzten Worte nicht ihr gegolten hatten, war ziemlich offensichtlich.

„Boah, zischt ab, ja? Ja, nee, is klar, mach doch! Mach doch! Ich schwör, ihr seid die Opfer hier! Verpisst euch jetzt, ja oder-"

„Felix?" Marie wusste, dass das Gespräch abgebrochen war, ohne dass sie aufs Display schauen musste. Sie tat es dennoch. Fuck. Sie rief sofort zurück, kam aber nicht durch. Dann stellte sie das Smartphone auf maximale Lautstärke, ehe sie sich wieder aus dem Bett schob. Sie ging zur Tür, betätigte da den Lichtschalter. Dann versuchte sie erneut, Felix anzurufen, während sie auf und ab ging und dabei ihren Bauch streichelte. Sie wusste nicht, wen sie eher beruhigen wollte: das Baby oder sich selbst. Sie öffnete die Tür zum Flur, streifte durch die Wohnung, machte überall Licht an. Dann rief sie Julian an. Aber auch der ging nicht ran. „Fuck!" Sie merkte, wie ihr Tränen über die Wangen liefen. Nein, das ging jetzt nicht. Das ging jetzt einfach nicht. Im Bad wusch sie sich das Gesicht, in der Küche nahm sie sich ein Glas Wasser, trank es, während sie pausenlos aufs Handy starrte.



Quite Suddenly (Felix Lobrecht FF)Where stories live. Discover now