Kapitel 65

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Kapitel 65

Der Herbst nahte. Marie entdeckte einige gelbliche Lindenblätter auf dem Balkon, die der Wind in der Nacht hergeweht haben musste. Sie öffnete die Tür, trat hinaus, schaute sich um. Es war leicht neblig und roch nach Erde. Die Felder waren abgeerntet. Die Luft tat gut, Marie konnte atmen. Aber es war auch ziemlich kühl. Sie zog die Strickjacke fester um sich. Wie immer lauschte sie mit einem Ohr. Aber im Schlafzimmer war alles ruhig.

Sie ging zurück ins Wohnzimmer, nahm ihr Handy, koppelte es mit der Boombox und startete die Datei, die Tommi ihr geschickt hatte.

„Komm schon, Baby, zünd mein Licht an, versuch die Nacht anzuzünden... yeah! Das, meine Damen und Herren, war eine äußerst unprofessionelle und vermutlich auch ziemlich falsche - da von mir höchstpersönlich erstellte - Übersetzung eines Rockklassikers der Doors oder... na, wenn schon, denn schon: der Die Türen." Felix lachte. „Okay, reicht dann auch. Damit herzlich Willkommen zu einer neuen Folge Gemischtes Hack. Mein Name ist Felix Lobrecht und mir gegenüber sitzt wie immer der wunderbare Tommi Schmitt, der gerade grinst, als hätte er mal wieder an nem riesigen Hasch-Cookie genascht." Felix lachte. „Tommi, was ist los?"

„Na, mein Mäusebärchen? Ich grinse nur so breit, weil du so breit grinst. Ist ja fast nicht mit anzusehen. Höchst ungewöhnlich für dich in letzter Zeit. Aber ich muss dir direkt mal zustimmen: Viele Songs klingen, wenn man sie ins Deutsche übersetzt, nicht mehr wirklich so cool. Aber... Mann!" Tommi lachte. „Was ist los, Felix, hm? Ich kann mich gar nicht konzentrieren, wenn du mich so anstrahlst."

Da waren ein paar Sekunden Pause, bis Felix hörbar die Luft ausstieß und dann lachte. „Okay, schneiden wa raus. Wollte jetzt schnell die Aufnahme durchziehen, aber... muss ick dir einfach sagen, Tommi. Off the Record: Dir gegenüber sitzt der most lucky motherfucker. Marie und ich, wir sind wieder zusammen. Ey, ich kann dit noch gar nich richtig fassen, ja?"

„Scheiße, Felix. Kannst du bitte aufhören? Ich seh dich genau. Und mir kommen gleich auch die Freudentränen. Mann! Freut mich aber auch echt für dich, für euch. Ich hab's ja gewusst, dass ihr das wieder hinbekommt."

„Ach ja? Du hast das gewusst? Also ich hatte da so meine Zweifel", brummte Felix.

„Na ja, war sicher nicht einfach. Nach dem, was da gelaufen war, klar. Aber... also ihr werdet ja Eltern. Und wenn das kein Grund ist, es noch mal zu versuchen. Also... ich denke mal, ihr macht das nicht nur deshalb, aber... ja, du verstehst schon, was ich meine, oder?"

„Nee Tommi, ehrlich gesagt nicht. Aber ja, geht nicht nur ums Elternsein bei uns. Ich lieb die Frau einfach. Und sie mich. Und ich werd nie, nie wieder so ne Scheiße bauen und das riskieren."

Tommi seufzte. „Gott, ist das süß. Ich war ja immer großer Fan von euch beiden, ganz ehrlich. Ich kling zwar jetzt wie die von dir oft zitierte Moni, aber: Die Marie tut dir einfach gut, Felix."

„Ja, tut sie. Marie ist... die ist einfach meine große Liebe, so albern dit jetzt klingt. Nee, eigentlich gar nicht albern. Ist eben so. Wir gehören zusammen. Und jetzt... ey, ich hoffe einfach, dass jetzt alles wieder gut wird."

„Wird es bestimmt. Seid ihr noch immer an der Nordsee eigentlich?"

„Yo, sind wa. War ja so ne Art Beziehungs-Therapie-Urlaub hier. Und... ja, hat wohl geklappt."

„Boah, Felix. Echt, von einem Ohr zum anderen grinst du. So schön! Da könnte man ja fast neidisch werden."

„Ach, du findest auch noch die richtige. Vielleicht nicht auf Instagram. Schau dir doch mal deine Nachbarinnen an. Ick hab da gute Erfahrungen mit gemacht."

„Hm... da ist diese knapp Siebzigjährige eine Etage tiefer. Die... also ich muss schon sagen, die ist auf eine für mich fast schon etwas verwirrende Art wirklich attraktiv. Und fit ist die auch, also für ihr Alter."

„Ja, siehste. Läuft sicher bald bei dir." Felix lachte.

„Klar. Wenn du mein Wingman wirst."

„Na, dit sehen wa dann." Felix räusperte sich. „Äh... okay. Also ich würde sagen, wir fangen einfach noch mal von vorne an, wa? Schneiden ist jetzt blöd, war jetzt zu lange, unser kleines Privatgespräch hier."

„Ja, ist sicher besser, wenn wir noch mal von vorne anfangen."

Marie musste lächeln. Sie wusste nicht, wie oft sie die Aufnahme inzwischen abgespielt hatte. Es tat gut, das zu hören, auch wenn sie erst Angst gehabt hatte, dass es wehtun könnte. Sie stand auf, weil sie glaubte, Geräusche aus dem Schlafzimmer zu hören. Sie ging rüber. Das Baby war wach. Marie machte das Deckenlicht an und lächelte den Kleinen in seiner Wiege an. „Guten Morgen, mein Schatz!" Sie nahm ihn hoch, weil seine Antwort nicht ganz so freudig ausfiel. Er hatte Hunger, klar. Drüben im Kinderzimmer setzte sie sich in den Sessel und begann, ihren Sohn zu stillen. Es ging besser inzwischen. Im Krankenhaus hatte sie Angst gehabt, dass er nicht genug trinken würde, weil er so zaghaft und anfangs auch etwas schwach gewesen war. Aber mittlerweile waren sie ein eingespieltes Team. Marie mochte das Gefühl. Natürlich tat sie das. Ihr Kind in den Armen zu halten war ohnehin das beste Gefühl, das sie je erlebt hatte. Sie sah dem Kleinen zu und wie immer wurde sie darüber etwas müde. Auslaugend, hatte ihre Mutter das genannt. Stillen konnte wirklich auslaugend und kräftezehrend sein. Aber irgendwie war es auch entspannend. Es war ruhig dann, in ihr und um sie herum. Nur der Kleine und sie. Nichts anderes.

Als er satt war, zog sie ihr Oberteil wieder zurecht, legte sich das Spucktuch über die Schulter und stand auf. Es hatte sich bewährt, wenn sie mit dem Kleinen ein paar Schritte auf und ab ging und ihm sanft den Rücken klopfte, bis er das eher an einen Schluckauf erinnernde Geräusch machte. Danach wickelte sie ihn und nahm ihn wieder in die Arme, ging mit ihm ans Fenster. „Das ist Nebel", erklärte sie ihm. „Aber später wird die Sonne rauskommen. Und dann machen wir unseren kleinen Spaziergang, ja?" Sie drehte sich um, ging durch das Zimmer und wiegte den Kleinen dabei, so, wie er es mochte und sie auch. Sie blieb an der Wand stehen. Blumen und Käfer. Ihr Blick fiel auf einen Marienkäfer. Der war ihr noch nie bewusst aufgefallen. Ob Felix sich dabei was gedacht hatte? Irgendwann hatte er mal versucht, sie so zu nennen. Aber als Spitzname hatte sich das nicht durchgesetzt. Es wäre auch albern gewesen. Marie blieb vor den Fotos stehen, die an der Wand neben der Tür hingen. Ihr Cousin hatte sie angebracht vor ein paar Tagen. Sofort, als Marie den Gedanken laut ausgesprochen hatte. Es war ihr gar nicht eilig damit gewesen. Aber René hatte direkt das Werkzeug aus dem Keller geholt, war sogar später noch in die Stadt gefahren, um einen anderen Rahmen zu besorgen. Das war seine Art, sie zu unterstützen, auch wenn er ansonsten zu denjenigen gehörte, denen es in den letzten Wochen schwerfiel, mit Marie zu sprechen oder ihr auch nur länger in die Augen zu schauen.

Es waren Bilder von Felix, dem Kleinen und ihr. Bilder, auf denen sie noch mit Keks schwanger gewesen war. Eines, das hier im Zimmer aufgenommen worden war, von ihrer Mutter. Eines, das Felix gemacht hatte, auf dem Schiff damals, unter Deck, als der Sturm sie überrascht hatte. Und eines von vor ein paar Wochen, in der nahen Stadt, aufgenommen von der Apothekerin. Felix und sie mit dem riesigen Bauch vor dem Brunnen. „Siehst du deinen Papa?" Marie drehte sich, sodass das Kind in ihrem Arm Richtung Wand blickte. Aber dafür war es zu früh, natürlich. Und das Baby begann schon wieder, mit den Augen zu blinzeln. Er schlief fiel. Auch das war natürlich.

Marie trug den Kleinen wieder hinüber ins Schlafzimmer, legte ihn in die Wiege. Sie drapierte den Pinguin und den abgeliebten Stoffpanther so, dass das Baby sie sehen konnte, wenn es den Kopf ein wenig drehte. Sie dachte daran, wie es gewesen war, die Stofftiere auszupacken. Es war eine so schöne Idee von Felix gewesen. Und die Tasche war noch nicht leer. Ein Stück nach dem anderen, das hatte sie sich vorgenommen. Sie beugte sich über die Wiege, gab ihrem Kind einen sanften Kuss auf die Stirn. Dieser Geruch war einfach der schönste Geruch auf der Welt. Sie war beinahe süchtig danach. „Wenn du aufwachst, ist Tante Lucia vielleicht schon da", sagte sie, lächelte den Kleinen an, stieß die Wiege immer wieder leicht an und wartete, bis seine Augenlider zugefallen waren. Dann wandte sie sich ab und legte sich ins Bett. Sie war müde. Und es gab keinen Grund für sie, wach zu sein, wenn es der Kleine nicht war.



Quite Suddenly (Felix Lobrecht FF)Where stories live. Discover now