92. Vergangenheit

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Eric

Seufzend betrat ich mein Labor und wäre am liebsten direkt wieder umgedreht. Aleksis saß an einem der Tische und sortierte Akten.

Erst dieser zerrupfte Junge und dann musste ich auch noch diesen Spinner von Halbvampir aushalten. Tiefdurchatmend setzte ich mich an meinen Tisch und las mir weiter die Akte durch, welche ich vor der Operation begonnen hatte. Dabei stützte ich meinen Kopf in meine Hand so dass ich ihn nicht im Augenwinkel sehen musste.

„Eric?"

Genervt schloss ich die Augen und griff etwas in mein Haar.

„Ich habe das Gefühl, dass zwischen uns irgendwas nicht ganz grün ist."

Ach wirklich Sherlock. „Mach deine Arbeit.", grummelte ich und öffnete die Augen wieder. „Wir werden eine ganze Weile mit einander verbringen müssen. Ich möchte nicht...", setzte er an. Doch verstummte sofort als ich auf den Tisch schlug. Schweratmend hielt ich die gelbe Farbe in meinen Augen zurück bevor ich sagte: „Es hat nichts mit dir zu tun. Nur wie würdest zu mir stehen, wenn ich der nächste bin mit dem deine Frau schläft?" „Ich dachte sie sei nicht...", setzte er erneut an. „Wir haben ein Kind zusammen. Es ist scheiß egal ob sie einen Ring trägt oder nicht. Sie gehört mir!", rief ich mit vor Wut zitternder Stimme und starrte ihn erbost an. Durch seine Reaktion wurde mir bewusst, dass mir das Gelb doch in die Augen gestiegen war. Doch ich hatte auch nicht mehr den Willen es zurück zu halten. Aleksis drehte sich auf seinem Stuhl ganz herum und erwiderte mit ruhiger Stimme: „Ihre Freundin hat ihr gesagt, dass sie nichts mit mir anfangen sollte. Dass ich nur ein billiger Abklatsch von dir bin. Ich denke, sie hat nie aufgehört dir zu gehören." Auch wenn mich seine Aussage sicher beruhigen sollte. Ich konnte mich nicht beruhigen. Mein Körper hatte ein Ventil gefunden um all den Stress der letzten Jahre entweichen lassen zu können. Ich wollte ihn am liebsten schlagen. Je länger ich sein Gesicht sah, desto schneller raste mein Herz und desto mehr wollte ich sein Blut laufen sehen.

„Verschwinde.", kam es mit dunkler Stimme über meine Lippen. „Geh mir aus den Augen!", brüllte ich und warf die Akte nach ihm. Als er sich immer noch nicht rührte. Erst als jedes Blatt auf den Boden gesegelt war, er hob er sich und schob langsam seinen Stuhl an den Tisch bevor er leise den Raum verließ.

Zitternd fuhr ich mir durch die Haare, versuchte meinen Puls zu beruhigen und tief zu atmen. Aber die Wut steckte zu tief in meinen Knochen. Wieso war ich nicht einfach von Anfang an in meinem verdammten Büro geblieben? Wieso hatte ich sie zu mir eingeladen? Wieso hatte ich Atayo zu gehört?

„Eric? Alles okay bei dir?", vernahm ich eine sanfte Stimme. Wenig später legte sich eine kühle Hand in meinen Nacken und strich sanft über meine Schultern. Mit einem leisen entspannten seufzen ließ ich mich auf die Tischplatte sinken und vergrub mein Gesicht unter meinen Armen. Ich hörte wie Shinji sich einen Stuhl heran zog und sich dann neben mich setzte. Dennoch strich seine Hand weiter beruhigend über meinen Rücken und durch meine Haare, bis mir stumme Tränen über die Wangen liefen.

Shinji saß nur stumm da und leistete mir Gesellschaft bis meine Tränen versiegten.

„Ich werde sie nie wiedersehen.", kam es brüchig über meine Lippen. „Wieso denkst du das?", fragte Shinji und wickelte sanft eine schwarze Strähne meiner Haare um seinen Finger. Langsam nahm ich einen Arm etwas hinunter um ihn ansehen zu können, ohne den Kopf heben zu müssen. „Sie werden kommen.", sagte ich kläglich und biss mir auf die Innenseite meiner Wange. Shinji lächelte sanft und strich eine weitere Strähne hinter mein Ohr, welche an meiner Nase kitzelte. „Sie wären längst hier, wenn Favio geredet hätte. Es kann gut sein, dass er tot ist. Dass sie ihn nicht sprechen lassen haben. Risa hat nichts weiter von Favio gesehen, richtig?", fragte er und strich weiter beharrlich durch meine Haare. „Eric, mach dich nicht fertig wegen Dingen, die vielleicht nie passieren. Da sind zwei Kinder, die dich brauchen, deine Geschwister ebenso. Lydia wird klar kommen. Sie ist ein Mensch. Sie können ihr nichts tun.", versuchte er mich aufzumuntern. „Sie haben ihr unseren Sohn weggenommen.", erwiderte ich. Shinji seufzte leise und sagte nichts mehr. Er strich nur weiter über meinen Rücken und meine Schultern. Seit meinem Zusammenbruch vor ihm hatte ich darauf geachtete bei ihm keine Schwäche mehr zu zeigen. Aber er war dennoch ständig da. Ich konnte mich an keinen Tag erinnern an dem er nicht mindestens morgens mit mir am Tisch gesessen hatte und mit mir und Ezra frühstückte. Fast wie früher, wenn er mit mir morgens am Frühstückstisch saß. Er hatte die ganze Nacht mit meinem Vater gearbeitet und war deswegen müde. Ich war müde, weil ich nicht schlafen konnte und zur Schule musste. Er hatte mich gefragt wie die Schule lief, was ich noch alles lernen wollte. Er hatte sich tausendmal entschuldigt für das laute Arbeiten. Und dann...

„Du bist ja immer noch da.", sagte meine Vater und griff nach einem Glas in dem offenen Schrank. „Meinst du mich oder deinen Sohn?", fragte Shinji und setzte die Füße auf dem Boden ab, die er bisher auf der Sitzfläche seines Stuhles gehabt hatte. „Eigentlich euch beide. Aber ich meine meinen Sohn.", sagte mein Vater und setzte sich mit einem gefüllten Glas zu Shinji an den Tisch. „Die erste Stunde fiel aus.", sagte ich leise und beobachtete wie Shinji erneut die Füße hoch auf den Stuhl zog. Mein Vater schnaubte leise und erwiderte: „Nicht mal auf die Schule kann man sich noch verlassen." Leicht kniff ich die Lippen zusammen und sah hinab auf mein Glas. War das denn mein Fehler? „Er wird schon nicht vergessen was er gelernt hat wegen einer Stunde.", hörte ich Shinji sagen. Mein Vater stellte mit einem lauten Ton sein Glas ab und erwiderte: „Ne, das vielleicht nicht. Aber was du vielleicht nicht weiß. Schulen haben eine Aufsichtspflicht." Leicht sah ich auf und beobachtete wie mein Vater Shinji eine der langen weißen Strähnen hinters Ohr strich bevor er aufstand und sein leeres Glas in die Spüle stellte. Dann kam er zurück und legte seine Hände auf Shinjis Schultern. „Kommst du alleine dort hin?", fragte mein Vater. Ich sah weiter auf und begegnete seinem hellblauen Blick. Schwerschluckte ich und nickte langsam. „Ich kann ihn auch bringen.", sagte Shinji und strich bestimmt die Hände meines Vaters von seinem Körper doch er legte sie nur erneut an seine Oberarme und beugte sich leicht hinab. Ich verstand nicht was er sagte aber Shinjis Augen nahmen einen leichten rosa Stich an bevor er den Namen meines Vaters rief und ihn endgültig abschüttelte.

„Wieso warst du immer für mich da?", hörte ich mich leise mit belegter Stimme sagen. Shota legte den Kopf schief und fragte: „Was meinst du? Ich bin doch für euch alle da." Ich schüttelte den Kopf und erwiderte: „Generell. Früher, heute. Du könntest genauso gut Atayo hinterherlaufen." Shota lachte auf und lehnte sich neben mich an den Tisch. „Sie hatten alle jemanden an den sie sich wenden konnte. Auch Atayo. Er musste nie alles alleine schaffen. Du schon. Auch früher. Dein Vater hat dich schon sehr früh für selbstständig erklärt.", sagte er und schmunzelte leicht. „Danke.", murmelte ich leise und schloss die Augen als Shota erneut anfing über mein Haar zu streichen. Je mehr dieser Situationen ich mit ihm erlebte, desto mehr wurde mir klar was meinen Kinderaugen verschlossen geblieben war. Das mein Vater sich sehr wohl zu Shinji hingezogen gefühlt hatte und dafür sogar seine Kinder versetzte.

„Nathanael!"

Als die weiche Stimme des Omega durch unser Haus klang fuhr der Kopf meines Vaters empor. „Shinji? Ist alles okay?", hörte ich ihn sagen als er schon halb im Flur war. Mit zusammen gebissenen Zähnen sah ich auf meiner Hausaufgaben, welche teils mit der Handschrift meines Vaters beschrieben waren. Dazu kleine Zeichnungen von Äpfeln. Als ob ich nicht schon lange rechnen könnte. Aber wusste er das? Ich war mir nicht sicher. Ich genoss nur die Zeit, die er deswegen mit mir verbrachte. Abwesend beobachtete ich wie die beiden Männer mit dem kleinen Bündel nach oben liefen. Sicher hatte Sanji wieder irgendwas. Fieber oder husten. Wer wusste das schon.

Eine ganze Weile später kamen sie wieder hinunter und setzte sich mir gegenüber auf die Couch. Sanft legte mein Vater einen Arm um Shinji. Auf seinem Gesicht lag große Sorge und die war sicher berechtigt aber das verstand ein Kinderverstand nicht so gut.

„Es ist nur eine leichte Erkältung und du weißt, dass er bei Ran schnell wieder gesund wird.", hörte ich meinen Vater sagen. Sanft strich er über Shinjis Kopf und zog diesen dann auf seine Brust. „Er kann doch nicht ewig so anfällig und zerbrechlich bleiben.", schniefte Shinji und legte dankend seine Stirn gegen den Hals meines Vaters. „Ich war doch auch nicht so.", fügte er leise hinzu und griff in Nathanaels Hemd.

Skeptisch beobachtete ich wie mein Vater seine Wange sanft an Shinjis Scheitel legte nur um seinen Kopf immer weiter zu drehen, bis seine Nase an seinen Haaren lag und seine Lippen Shinjis Stirn berührten.

Ruckartig stand ich auf und ging zur Wendeltreppe. Auch die Stimme meines Vaters hielt mich nicht zurück. Er sprach was von Hausaufgaben. Aber ich wollte grade nicht dort unten sein. Also schlüpfte ich in Rangas Kinderzimmer, wie es schon immer meine Aufgabe gewesen war. Ich musste bescheid geben, wenn es Sanji schlechter ging und mein Vater verschwand mit Shinji. 

Vamp Zone 《4》Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt