17. Abstellkammer

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Kenneth

Seufzend ließ ich mich an der schützenden Mauer hinuntergleiten. Es war einer der wenigen Momente, in denen ich das Sonnenlicht genießen konnte. Cirah hatte es nur wegen der Ernte erlaubt, aber ich nutzte es gerne auch aus. Hier zu sitzen und die Sonne mein Gesicht wärmen zu lassen. Es war Juni und wer konnte es mir verübeln. Der Bunker war kalt, sicher, aber nichts schien mir kälter. Dafür gab es eine Erklärung. Shota hatte sie geliefert.

Als Victor und Eric mit ihm über den Vorfall gesprochen hatten, welcher sich an meinem letzten Tag im Labor ereignete, schien ihm diese Schilderung nicht fremd. Er hatte mir erklärt, dass meine damalige Fürsorge für Jon dafür verantwortlich war. Ich habe ihm mein Blut gegeben. Freiwillig. Offensichtlich war der Speichel eines so jungen Vampirs nicht ganz harmlos. Er hatte mich zu seinem Schutzengel gemacht. Was erklärte, weshalb es mir nicht möglich war, von ihm Abstand zu gewinnen. Warum ich dieses dringende Bedürfnis hatte, für ihn zu sterben. Es erklärte allerdings auch, weshalb ich einen solchen Drang nach Freiheit hatte. Shota sagte immer wieder, es sei meine Natur. Was aber nichts daran änderte, dass ich dieser nicht nachkommen konnte.

Dennoch fühlte ich, wie die starken Schwingen sich um meinen Körper schlossen. Die Sonne brannte auf dem dunklen Gefieder, aber es fühlte sich vertraut an.

Hier in der Ruine konnte ich sie herauslassen. Konnte sie atmen lassen. Nach meinem Erwachen hatte ich ziemlich schnell bemerkt, dass ich sie nicht ewig wegsperren konnte. Ich hatte es versucht. Aber es hatte darin geendet, dass sie eines Abends einfach aus meinem Rücken brachen. Dieser Schmerz war ungeheuerlich. Aber was Victor noch viel mehr besorgte, war der Fakt, dass damals immer noch das Blut von den Federn tropfte und die Kugeln ebenfalls noch an ihrem Platz saßen. Er hatte sie entfernt und seitdem war es angenehmer sie ans Tageslicht kommen zu lassen. Auch wenn es immer noch ein leichtes Ziehen und einen späteren Muskelkater hervorrief. Aber das war nichts zu dem Schmerz, den ich da erlitten hatte.

Jon wusste es nicht. Ich hatte mich dafür entschieden, es ihm nicht zu erklären. Er würde sich nur Vorwürfe machen. Dabei hatte ich ihn doch gebeten, mein Blut zunehmen. Aber so war er eben.

„Ken?"

Erschrocken fuhr ich zusammen und schlug die Flügel auf. „Hier bist du.", sagte mein Stiefvater und verschränkte die Arme. „Wie jede Woche.", erwiderte ich und ließ die mächtigen Schwingen verschwinden. Victor beobachtete dies mit einem kleinen Schmunzeln auf den Lippen und sagte dann: „Ich muss immer daran denken, wie sehr Jacob sich darüber gefreut hätte. Seine Augen kann ich grade zu vor mir sehen." Er hatte sich aus Sicherheitsgründen entschieden, ebenfalls Abstand zu unserer Familie zu nehmen. Jetzt seit ungefähr vier Jahren ließ er meine Mutter nach Absprache mit ihr, alleine mit meinem kleinen Bruder. Er hoffte, dass sie so sicherer wären. Dass es keine Verbindung mehr gäbe und niemand einen Grund sehe ihnen etwas zu tun. Ob es funktionierte, konnten wir nicht wissen. Ermordete Menschen listeten sie nicht. Zwar konnten wir das nicht sicher sagen, aber es wäre schon ziemlich dumm. Zudem hatten wir noch nichts von Favio gehört. Ich konnte ja nicht wissen, dass Victor mich genau deswegen aufgesucht hatte.

„Ich habe ihn gesehen.", war sein einleitender Satz. „Kenneth, du musst mir sagen, ob wir Favio trauen können.", fügte er hinzu und sah mich ernst an. „Favio?", fragte ich verwirrt und richtete mich auf. „Er ist nicht weit von hier und er wird die Stadt bemerkt haben. Keine Ahnung, ob er weiß, was sie ist. Aber er sieht nicht gut aus.", erwiderte Victor. „Vertraust du ihm?", hängte er hinterher und legte den Kopf schief. „Ja, natürlich. Du sagtest doch selber, dass sie ihn zwingen. Das ist nicht seine Überzeugung.", sagte ich und sah zu dem kleinen Stück Waldrand, dass man durch das schmale Fenster in der Mauer sehen konnte.

Es war eines der Häuser, die nur ihr Dach verloren hatten und somit zwar nicht optimal für den normalen Anbau war, aber optimal für unseren. Ich hatte mit Ranga zusammen dafür gesorgt, dass die Pflanzen durch ein Glas-Spiegel-System den ganzen Tag über Licht und Wärme bekamen. So störten die schutzbietenden Mauern nicht beim Anbau der Pflanzen und sie bleiben unentdeckt. Zudem führte der abgebrannte Boden zu meist besseren Früchten. Dies hier war nicht das einzige Haus, was zu einem solchen Gewächshaus umgebaut worden war. Aber es war mein Liebstes. Ich liebte den Geruch der Tomaten, welche nur für einen geringen Zeitraum wirklich vernünftig wuchsen.

„Soll ich ihn herbringen?", fragte Victor nach einer Weile. „Ich gehe.", widersprach ich und drehte mich wieder zu ihm herum. „Er weiß nicht, dass du zu uns gehörst. Er wird dir nicht trauen.", fügte ich hinzu, als Victor mich verwirrt ansah. „Ken, was, wenn er, aus welchen Gründen auch immer, dich tötet.", erwiderte mein Stiefvater. „Mich konnten zehn Männer mit Handwaffen nicht töten. Da wird Favio das auch nicht schaffen.", sagte ich und hörte selber wie überheblich das klang. Aber es war nun mal so. „Welche Richtung?", fragte ich, bevor Victor auf die Idee kam, mich abhalten zu wollen. Ohne Worte deutete er hinter sich. „Mach dir keine Sorgen.", sagte ich zuletzt und ging dann an ihm vorbei aus dem Gewächshaus.

So unauffällig wie möglich ging ich durch die nieder gebraten Reste der Häuser bis ich den Waldrand erreichte. Es war das erste Mal nach sieben Jahren, dass ich wieder das Gras unter meinen Sohlen fühlte und nicht nur den staubigen Boden. Das Rauschen der Bäume klang angenehm in meinen Ohren und war nicht mehr so weit weg. Es umgab mich und ich fühlte mich wohl. Meine Füße führten mich tiefer und tiefer in den Wald. Ich würde ihn finden. Nur hoffentlich nicht allzu bald. Ich wollte die Freiheit genießen.

Doch mein Wunsch wurde nicht erfüllt. Schon nach einer halben Stunde entdeckte ich die ersten Spuren. Ich folgte ihnen und gelangte an ein kleines Lager. Ein beiges Hemd hing an einem Ast vom Baum und unter selbigen fand ich einen kleinen Unterschlupf. Äste waren gegen den Stamm gelehnt und ein paar Zweige und Blätter sollten wohl Schutz vor dem Regen bieten. Leise näherte ich mich diesem Gebilde und entdeckte eine kleine Feuerstelle vor dem Unterschlupf. Sie glühte noch und spendete dem mageren Körper unter den Ästen Wärme. Um seine Schultern lag eine dunkelgraue Filzdecke und darunter erkannte ich seinen nackten Oberkörper. Es war wie gesagt Juni. Allerdings schien er nass geworden zu sein und ich konnte mir vorstellen, dass das nachts nicht sehr angenehm war. Ich ließ meine Finger über den beigen Stoff neben mir gleiten und nahm immer noch eine gewisse Nässe wahr. Also hatte ich recht.

„Favio.", sagte ich leise und begab mich zu ihm. Leise hockte ich mich auf den Boden und fing an, durch sein Haar zu streichen. Ich weiß, ich hatte Victor etwas anderes erzählt. Aber es war schon vorgekommen, dass er und ich uns nähergekommen waren. Nur hatten wir nie darüber gesprochen. Es war uns beiden mehr ein Bedürfnis gewesen. Keiner hatte mehr die Chance gehabt, Freunde zu sehen. Geschweige eine Intimität aufzubauen. Nein, wir hatten nicht miteinander geschlafen. Wo auch. Aber Streicheleien, Liebeleien. Alles was so nebenbei oder in einer Abstellkammer ging.

Vamp Zone 《4》Donde viven las historias. Descúbrelo ahora