~Helmut Zemo PoV~
Helmut Zemo war kein Psychologe - auch wenn er überraschend gut darin war, sich in den Kopf seiner Gegner hineinzudenken und anhand ihrer Vergangenheit oder ihren Entscheidungen auf ihre Schwächen und wunden Punkte zu schließen.
Nein, in Wirklichkeit war er Soldat.
Oder zumindest war er das gewesen - der Colonel einer sokovianischen Eliteeinheit, genannt "EKO Skorpion" und damit einer der ranghöchsten Kommandanten seiner Heimatstadt - , bevor seine gesamte Familie beim Kampf um eben diese Stadt, Sokovia, umgekommen war.
Der Schmerz um ihren Verlust war noch frisch, immerhin war es kein Jahr her, dass die Avengers die ganze Stadt mit Hilfe eines künstlich denkenden Roboters hunderte Meter über dem Boden hatten schweben lassen.
Hunderte von Menschen hatte dieses schief gelaufene Wissenschaftsprojekt mit ihrem Leben bezahlen müssen - darunter sein eigener Vater, seine Frau und sein Sohn.
Sein kleiner, unschuldiger Junge, der jedes Mal in Begeisterungsstürme verfallen war, wenn er Iron Man aus dem Autofenster heraus am Himmel entlang fliegen sehen konnte oder alte Reportagen über Captain America im Fernsehen liefen.
"Mach dir keine Sorgen...", hatte er zu seiner Frau gesagt, wann immer sie mit Unruhe im Blick die Spur aus Tod und Zerstörung beobachtet hatte, die den Superhelden zu folgen schien, wie ein dunkler Schatten. "...sie kämpfen in der Stadt! Wir sind meilenweit entfernt!"
Dass Teile dieser Stadt vom Himmel stürzen würden, wie todbringende Kometen, hätte er niemals für möglich gehalten.
Aber eines Tages war er nach Hause gekommen und hatte anstatt der warmen Mahlzeit und den glücklichen Gesichtern seiner Familie, die für gewöhnlich auf ihn warteten, den Tod vorgefunden.
In Form von gewaltigen Gesteinsbrocken, die Mauern niedergerissen, Dächer zum Einsturz gebracht und alles Leben so mühelos unter sich zerquetscht hatten, dass es einem jeden das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Zu Anfang hatte er noch Hoffnung gehabt.
Wie eine giftige Pflanze hatte sie sich in seinem Herzen eingenistet, ihre Ranken darum geschlungen und dafür gesorgt, dass er die rauchenden Trümmer weiter nach Überlebenden absuchte - unwillig die offensichtliche Wahrheit als solche zu erkennen.
Beinahe zwei Tage lang hatte er sich bei dem Versuch - ins Inneren des Hauses zu gelangen - die Hände an den rauen Steinbrocken und scharfkantigen Glasscherben blutig geschürft, nur um letztendlich drei Leichen vorzufinden.
Sein Vater hatte die Arme um seine Frau und sein Kind geschlungen, als hätte er sie vor den gewaltigen Dachbalken und Felsen beschützen wollen.
Nur war ihm das nicht gelungen, denn das einstürzende Haus hatte seine Beine weg knicken lassen und ihn zusammen mit dem Rest seiner Familie unter sich begraben.
Die unbeschreibliche Angst, die zusammen mit den salzigen Tränenspuren und den dunkelroten Schlieren von Blut selbst nach dem Tod noch auf ihren Gesichtern zu sehen gewesen war, hatte ihn beinahe durchdrehen lassen.
Jedes Bisschen Hoffnung war verschwunden gewesen und hatte ihn mit nichts als unerträglichem Schmerz und bodenloser Verzweiflung zwischen den Trümmern zurückgelassen.
Er wusste nicht mehr genau, wann die Trauer der Wut gewichen war oder wann er aufgehört hatte zu schreien, um sich auf das Einzige zu konzentrieren, was jetzt noch von Bedeutung war:
Rache.
Rache an den Menschen, die ihm und allen anderen in dieser Stadt - ob nun mit Absicht oder durch ein gescheitertes Roboterexperiment - ein solches Leid zugefügt hatten.
Sein Herz war gebrochen gewesen - in tausende, gezackte Splitter zersprungen -, aber die Bruchstücke hatten sich nach einiger Zeit wieder zusammengefügt und von jenem Moment an nur noch für den Gedanken an Gerechtigkeit, an Vergeltung geschlagen.
Jeder Atemzug hatte dem Ziel gedient, die Avengers für die fatalen Folgen ihrer Taten bezahlen zu lassen.
Aber er war kein Narr gewesen.
Er wusste, dass er zu unbedeutend und zu schwach war, um sie selbst besiegen zu können.
Wesentlich mächtigere Männer hatten das bereits versucht und sie alle - ganz gleich was für eine tödliche Gefahr sie auch gewesen sein mochten - waren daran gescheitert.
Also hatte er sich nicht daran gemacht einen Plan auszuarbeiten, an dessen Ende er das Leben selbst aus den Augen der ach so angesehenen Helden sickern sah, sondern an einen, der sie dazu bringen würde, sich gegenseitig in den Tod zu stoßen.
Die Avengers gespalten, auf unterschiedlichen Seiten stehend und gegeneinander kämpfend - diese Vorstellung allein hatte ihn davon abgehalten, seinem Leid ein Ende zu setzen und sich dem Schicksal seiner Familie anzuschließen.
Er wollte nicht mehr leben.
Nicht so.
Nicht ohne alles, was ihm auf dieser Welt noch von Bedeutung gewesen war.
Aber seine Wünsche waren nebensächlich - zumindest vorerst -, denn solange er die Ermordung seiner Familie nicht gerächt hatte, solange diejenigen, die ihren Tod zu verantworten hatten noch in Frieden und Freiheit leben konnten, würde er nicht ruhen.
Das hatte er sich geschworen.
Erst wenn sie alle den selben Schmerz durchlitten hatten, wie sein Vater, seine Frau und sein kleiner Junge, würde er diesem Leben mit gutem Gewissen den Rücken kehren können...
Seine Finger schlossen sich fester um die dünne Kette, die er dem Mädchen abgenommen hatte, und sein Blick wanderte von der feinen Inschrift zu der Gestalt, die mit ausdrucksloser Miene vor ihm stand und seine Befehle abwartete.
Er hätte gelogen, hätte er behauptet, dass ihm dieser Anblick nicht gefiel.
Einen Menschen unter seiner Kontrolle zu haben, der mit Kräften jenseits des Möglichen gesegnet war und ohne zu zögern alles tun würde, was er von ihm verlangte, erfüllte ihn mit einem Gefühl, das er nur allzu gut kannte.
Macht.
Und zwar genug davon, um seinen Plan voranzutreiben.
Das Mädchen war eines der wenigen Dinge, die in seinen Überlegungen und Spekulationen nur als mögliche Variable, nicht als fester Bestandteil Platz gefunden hatte.
Jeder seiner Schritte war wohl durchdacht, taktisch perfekt abgestimmt und damit so gut wie unabwendbar.
Aber es hatte immer diese eine, winzige Lücke gegeben, die er nur mit der lockigen Schönheit vor sich ausmerzen konnte - das hatte er gewusst und deswegen hatte er alle nur möglichen Vorkehrungen getroffen, um dafür zu sorgen, dass sie ebenfalls in dieser Einrichtung landen würde.
Letztendlich jedoch war es Glück gewesen, nichts weiter.
Denn sie war die Einzige, deren nächsten Zug er nicht hatte vorhersagen oder sogar bestimmen können - und damit auch die Einzige, die seinem Plan wirklich und wahrhaftig hätte in die Quere kommen können.
Die Bombe in Wien zu legen war einfach gewesen.
Die trügerisch real aussehende Gesichtsprothese anzulegen, die dem Winter Soldier bis aufs letzte Haar glich, ebenfalls.
Aber er hatte sich nicht darauf verlassen können, dass man das Mädchen im selben Versteck finden würde, wie ihren silberarmigen Freund.
Deswegen war ihm nichts anderes übrig geblieben, als darauf zu hoffen, dass die Aufmerksamkeit der Geheimdienste auch auf sie fallen würde, kaum hatte man die Jagd auf den - diesmal zugegebenermaßen unschuldigen - Winter Soldier eröffnet.
Und so wie es aussah, hatte sich seine Hoffnung bezahlt gemacht.
Denn als er sich mit der Rolle des angeblichen Psychologen Zugang zu dieser Basis verschafft hatte, war sie da gewesen und hatte geradezu auf ihn gewartet - an einen Stuhl gekettet und hinter gläsernen Wänden weggesperrt.
Er hatte sie aus diesem Käfig befreit, nachdem er dafür gesorgt hatte, dass sie ihm nicht mehr gefährlich war und nun, da sie ohne die leiseste Emotion im Blick vor ihm stand - eiskalt, unnahbar und durch ihre bloße Aura bedrohlich - hatte sich das letzte Puzzlestück in seinen ansonsten fehlerfreien Plan eingefügt.
"Soldat?", seine Stimme war kaum mehr als ein tonloses Flüstern, doch sie neigte den Kopf als Zeichen dafür, dass sie gehört hatte und bereit war, den drauf folgenden Worten zu gehorchen.
"Sie haben verstanden, was Sie zu tun haben? Keine Zeugen, keine Kameras und keine Leichen! Nur unbemerkt verschwinden und die nächste Phase des Plans einleiten!"
"Ja."
"Na dann..." ein leichtes Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus, als er mitansah, wie das Mädchen sich auf dem Absatz umdrehte und den nach wie vor dunklen Korridor so geräuschlos und anmutig hinunter huschte, dass man sie für einen Schatten hätte halten können.
Er ließ die silbrige Soldatenkette in seiner Jackentasche verschwinden und wandte sich ebenfalls ab, um auf den Raum zwei Türen weiter zugehen und den Knauf herumdrehen zu können.
Auch hier war es bis auf die spärliche Beleuchtung der Notstromgeneratoren - die das Licht in der Zelle des Mannes vor ihm gemeinsam mit den roten Warnsirenen um die Wette flackern ließ - dunkel, doch das hinderte den Silberarmigen nicht daran, ihn zu entdecken, kaum hatte er einen Fuß durch die Tür gesetzt.
"Was ist hier los?" wollte er wissen und sah dem fremden Mann mit unverkennbarem Misstrauen entgegen.
Etwas an der Erscheinung des angeblichen Psychologen wollte nicht ganz zu dem Szenario um sie herum passen und das fiel dem Winter Soldier fast augenblicklich auf - auch wenn er den Zusammenhang vielleicht noch nicht verstand.
Der Fremde war zu ruhig, zu gelassen.
Wäre er mit schnellen Schritten und angespanntem Körper in das Zimmer gestürmt, hätte der Metallarmige sich nicht gewundert - immerhin wäre das erste, was die CIA bei einem Stromausfall überprüfen würde, die elektrisch betriebenen Gefängniszellen, nicht?
Allerdings wirkte der Mann, der nun langsam auf ihn zugelaufen kam keineswegs, als würde er sich Sorgen um die Funktionalität der metallenen Schnallen machen.
Nein, er wirkte wie jemand, der keine Angst vor dem plötzlichen Versagen der Technik hatte - jemand, der vielleicht sogar darauf gewartet oder es in die Wege geleitet hatte.
Helmut Zemo ignorierte die Frage.
Er wusste, dass es nur eine Frage von wenigen Minuten war, bis die ersten Agents diesen Teil der Basis erreichen würden und obwohl er durchaus in der Lage war, sich selbst zu verteidigen, war er nicht sonderlich erpicht auf einen solchen Kampf.
Also verschwendete er keine Zeit damit, den Mann hinter dem Glas auf die selbe Art und Wiese in die Irre zu führen, wie er es bei dem Mädchen getan hatte - den Psychologen zu spielen war nun, da alle in heller Aufruhr waren, ohnehin nicht mehr von Nöten.
Jeder in diesem Gebäude hatte mittlerweile bemerkt, dass irgendetwas ganz und gar nicht stimmte.
Seine Maskerade war also hinfällig.
"Wer hat geschrien? War... w-war sie es? Haben Sie ihr was getan?! Ich... i-ich weis nicht, was hier los ist aber ich schwöre bei Gott, wenn Sie ihr weh getan haben..."
Der Winter Solider ließ seine Drohung in der Luft hängen, sodass der Neuankömmling sich selbst die vielen schrecklichen Dinge ausmalen konnten, die mit ihm geschehen würden, sollte er Hand an das Mädchen gelegt haben.
"Aber nein, Mister Barnes...", murmelte der Mann auf Russisch und zog beiläufig die silbrige Kette aus der Jackentasche hervor, um sie sich durch die Finger gleiten und spielerisch vor der gläsernen Scheibe hin und her schwingen lassen konnte.
"...wo denken Sie hin? Ihre kleine Freundin ist bei mir in guten Händen!"
Mit zufriedener Miene beobachtete er, wie der Braunhaarige beim Anblick der Kette blass wurde.
Er hatte geahnt, dass dieses kleine Schmuckstück einen sentimentalen Wert für die beiden besaß - oder zumindest hatte er das gehofft, denn die Bedeutung, die das Mädchen für den Winter Soldier hatte, war unerlässlich für seinen Plan.
Die Kleine würde den Lockvogel spielen, damit der Silberarmige zusammen mit seinem ehemaligen Freund Rogers auch ganz sicher an dem kleinen Spiel teilhaben würde, das Zemo sich über Monate hinweg ausgedacht hatte.
Der Winter Soldier brauchte ausreichend Motivation, um nicht einfach wieder von der Bildfläche zu verschwinden und die Superhelden sich selbst zu überlassen.
Und da die Anwesenheit des ehemaligen Auftragmörders unerlässlich war, um seinen Erfolg zu garantieren, hatte er das Mädchen gebraucht.
Denn wenn er eines wusste, dann, dass Liebe - welcher Art auch immer - einen verbissener machte, als alles andere... würde die kleine Freundin des Winter Soldiers also verschwinden, würde er Himmel und Hölle in Bewegung setzten, um sie wieder zu finden.
"Wo ist sie?! Was... w-was haben sie mit ihr gemacht?!"
Genugtuung spiegelte sich auf den Zügen des Fremden wider, als er seinen Griff um die Kette langsam lockerte und sie mit einem leisen Klirren auf den steinernen Boden fallen ließ.
"Nichts, Mister Barnes! Zumindest noch nicht!"
Sollte das Schmuckstück zusammen mit der Andeutung, er hätte das Mädchen in seiner Gewalt noch nicht ausgereicht haben, um den Mann auf dem Stuhl zu provozieren, dann hatten es diese Worte auf jeden Fall geschafft.
Doch noch bevor der Winter Soldier die Gelegenheit bekam, ihn wütend und voller Hass anzuschreien, oder sich vollkommen unkontrolliert gegen die Fesseln zu werfen, hob der angebliche Psychologe das rote Buch in seinen Händen.
Die Seiten raschelten vielversprechend, als er es aufschlug.
Aber der wahre Wert des Buches lag nicht in dem Anblick der handgeschriebnen Papierfetzen oder dem roten Einband, sondern in den wenigen Worten, die auf eine der letzten Seiten gekritzelt worden waren.
Zehn Stück.
Beinahe unleserlich, doch nach einiger Zeit so einprägsam, dass er das Buch eigentlich gar nicht gebraucht hätte, um sie zu zitieren.
Nur zehn Worte - scheinbar ohne jeglichen Sinn oder Zusammenhang, doch mit einer Macht, die jeden eingeschüchtert hätte.
"Sehnsucht... verrostet... siebzehn...",
"Nein, was... w-was tun Sie?!"
"Morgengrauen... Schmelzofen... neun...",
"Aufhören... AUFHÖREN!"
Mit einem gewaltigen Ruck riss der Mann in der Zelle seinen silbrigen Arm in die Höhe und ließ die metallene Schnalle damit aufbersten.
"Gütig...",
"NEIN!"
Die Faust des Winter Solider traf auf das Glas, doch außer einem haarfeinen Riss konnte sein Schlag nichts ausrichten - immerhin war der Käfig nur für diesen einen Zweck gebaut worden: ihn gefangen zu halten.
"Heimkehr... eins...",
"Hören... HÖREN SIE AUF!"
Wieder und wieder holte er aus und schlug mit aller Kraft gegen die Scheibe - eine Mischung aus unerträglicher Qual und unbändiger Angst im Gesicht.
"Güterwaggon!"
Die Tür des gläsernen Gefängnisses flog mit einem ohrenbetäubenden Knall durch den Raum und gegen die gegenüberliegende Wand, doch der Mann, der mit seinem letzten Schlag zu Boden gegangen war, ging nicht auf den Fremden los.
Er tat überhaupt nichts.
Er blieb einfach nur neben der zusammengerollten Kette knien, als hätte das letzte Wort jegliche Kraft aus seinem Körper gezogen.
"Soldat?"
Ganz langsam, ganz ruhig erhob sich der Mann, allerdings war jedes Bisschen Schmerz, jedes Bisschen Angst, jedes Bisschen Wut aus seinem Blick verschwunden.
Tödliche Kälte schienen die grau-blauen Pupillen nun auszustrahlen.
"Erwarte Befehle."