Himmelfahrtskommando (2)

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Von einem grasbewachsenen Hügel hatten Sheytan und sein treuer Gefolgsmann Odin einen von Verwüstung geprägten Ausblick. Sie erkannten orangeaufleuchtende Lichter im Zentrum des Feriendorfes, während aus der Richtung der Stadt der Engel nur die pechschwarzen Qualmwolken sahen, die vom Grund der zerstörten Ruine durch das Loch in der Decke aufstiegen. Fast zeitgleich zu dem von Aarons verursachten Inferno, hatte Teresa ihren Sprengsatz gezündet.

Zufrieden lehnte Sheytan sich an die über fünf Meter lange, saphirschwarze Limousine. Der Elektromotor war aufgewärmt, für den Fall, dass sie fluchtartig weiterfahren mussten. Odin ging in die Hocke und begutachtete das orangeschwarze Schauspiel. Wie sein Chef hatte Odin das Mobiltelefon am Ohr.

„Ich werde noch ein letztes Mal die Details durchgehen", sprach Sheytan in den Hörer. „Aniela, du bist zwar nicht in unserer Nähe, dennoch werden wir dich über unseren aktuellen Fortschritt informieren. Und da wir Odin dabeihaben, schadet es nicht, den Plan noch einmal zu wiederholen."

Odin sah beleidigt in Sheytans Richtung, wagte es jedoch nicht, die Telefonkonferenz zwischen allen aktiven Mitgliedern der Einheit zu unterbrechen.

„Schaut auf eure Mobiltelefone. Ich habe euch folgende Textnachricht geschickt: 0 > A >>> B >>>>> C"

Odin starrte entgeistert auf die eben erhaltene Textnachricht, ehe er Sheytan verwirrt ansah.

„Die Nachricht dient eher Odins Verständnis, da er mit bloßen Worten den Plan nicht verstehen würde", eröffnete Sheytan. „Alle Buchstaben beziehungsweise Zahlen stellen einen Detonationsbereich für die Bomben dar. Der Punkt „0" steht für die Ruine, die Aaron, aus welchen Gründen auch immer, in die Luft jagte. Der Punkt „A" steht für das Feriendorf, der Punkt „B" für das abgelegene Fischerdorf und „C" schließlich für das Strandhaus, wo unser Treffen mit Aaron stattfand. Zurzeit befinden sich Odin und meine Person zwischen Punkt A und B. Teresa hatte sich nach der Detonation von Punkt A zurückgezogen und hält sich zwischen Punkt 0 und A auf. Sie wird in dem Chaos nicht weiter verdächtigt werden."

Odin starrte immer noch verwundert auf die erhaltene Textnachricht. „Das mit den Punkten habe ich verstanden, aber wofür stehen diese Pfeile? Ein Pfeil zwischen 0 und A, drei zwischen A und B und fünf oder sechs zwischen B und C. Warum sind zwischen Punkt B und C mehr Pfeile als zwischen A und B?"

„Jeder Pfeil steht für ungefähr fünf Minuten Fahrzeit, die zwischen den Punkten liegen", erklärte Sheytan. „Ebenfalls zeigen die Pfeile jeweils in die Richtung des Sprengpunktes, zu dem wir uns als Nächstes begeben werden. So kann man selbst mit begrenzten kognitiven Fähigkeiten wie in deinem Fall den Plan verstehen."

„Also wir sprengen erst Punkt B und dann C?", fragte Odin nach. „Klingt logisch, doch warum jagen wir noch mal alles in die Luft?"

Sheytan schüttelte mit dem Kopf. „Warum Aaron Punkt 0, also die verstaubte Ruine, in die Luft sprengte, weiß kein Mensch. Wahrscheinlich nicht mal er selbst. Er sagte mir nur, dass die Explosion erst der Anfang sei und er in der Ruine einige Zeit für sich bräuchte. Unsere Aufgabe ist es daher, die einrückenden Rettungs-, Polizei- und gegebenenfalls Militärkräfte von Aaron abzulenken. Deswegen hat Teresa zeitgleich zu der Explosion an Punkt 0 auch ihre Bombe an Punkt A gezündet. Die Hilfskräfte werden sich aufteilen müsse, beziehungsweise durch die aufkommende Irritation behindert werden. Die Rettungskräfte sind mit Sicherheit schneller vor Ort, als die militärische Verstärkung, doch die Rettungskräfte sind für Aaron keine Gefahr. Vielmehr könnte ihn das Militär behindern. Seit der Weltvereinigung wurde das Militär, aufgrund der ausbleibenden Kriege, zu einer kläglichen Mindestbesetzung geschrumpft. Die Streitkräfte werden bei derart vielen Explosionen sicherlich ausrücken, da jedoch der nächste Stützpunkt weit entfernt liegt, bleiben Aaron zwanzig Minuten, bis die ersten Kräfte eintreffen. Bevor das Militär an Punkt 0 oder A eintrifft, werden wir die Bombe an Punkt B zünden. Für die Installation der Bombe warst du verantwortlich, Odin. Du hast hoffentlich die Bombe innerhalb des Kirchturms angebracht."

Odin nickte selbstsicher. „Natürlich! Doch was hat dieser Aaron gegen die Kirche auszusetzen? Ein Mann braucht zwar nur einen Glauben, den Glauben an sich selbst, aber das bedeutet nicht, dass wir gegen andere Götter vorgehen sollten."

„Dadurch, dass wir ein religiöses Gebäude beschädigen, werden die anrückenden Kräfte mit weiteren religiös motivierten Anschlägen rechnen. Die Sicherheitskräfte sind vor allem daran interessiert, weitere Anschläge zu verhindern, weswegen sie einen Teil ihrer Kräfte zu Sehenswürdigkeiten oder anderen Gotteshäusern schicken werden, die für Terroristen dieser Art interessant wären. Natürlich sind wir nicht auf weitere religiös motivierte Ziele aus, doch wir möchten die Militärkräfte irritieren und behindern. Von Punkt A bis Punkt B werden sie schätzungsweise fünfzehn Minuten brauchen. Fünfzehn zusätzliche Minuten, die wir unserem Auftraggeber bescheren."

„Gut, gut", sagte Odin nickend. „Und warum sprengen wir das schöne Strandhaus in die Luft? Was gibt es dagegen wieder auszusetzen?"

„Das Strandhaus steht im Widerspruch zu allen anderen Zielen", sagte Sheytan. „Das wird auch dem Militär auffallen. Ein völlig freistehendes Haus am Strand hat keinerlei Relevanz für gewöhnliche Terroristen. Es sei denn, das Strandhaus stellte für die Terroristen einen Stützpunkt dar, wo wichtige Beweise oder andere Indizien zurückgelassen wurden. Sicherheitshalber würden die Terroristen natürlich das Gebäude mitsamt allen Beweisen vernichten. In dieser Annahme wird das Militär das Haus auf den Kopf stellen und vergeblich nach Anhaltspunkten suchen. Circa fünfundzwanzig Minuten Anfahrt sowie die dazukommende Behinderung des Militärs, die Aaron in die Hände spielen. Irgendwann wird das Militär den Braten riechen und ihre Einheiten zu Punkt 0 schicken, doch wenn wir allein von den Fahrtzeiten zwischen den einzelnen Punkten ausgehen, so hätten wir Aaron 45 Minuten gutgemacht. Was auch immer er in der verschimmelten Ruine anstellt, ist mir ehrlich gesagt scheißegal. Von mir aus könnte er auch dort unten bleiben."

„Du kannst doch mit deinem Telefon die Bomben aktivieren, oder?", fragte Odin. „Also könnten wir doch hier in Ruhe abwarten und nacheinander die Bomben zünden? Und falls das Militär Aaron auf die Schliche käme, könnten wir doch schnell einen Punkt D errichten. Vielleicht ... genau hier?"

„Leider nicht", sagte Sheytan bedauernd. „Aarons wahnwitzige Aktion an Punkt 0 brauchte fast unseren gesamten Vorrat an Sprengstoff auf. Uns verblieben einzig und allein drei grottige Bomben, die nicht einmal einen anständigen Fernzünder haben. Für die übrigen Bomben an Punkt B und C müssen wir uns fünfhundert Meter in der Nähe befinden, um die Bombe zu zünden. Wir werden also die übrigen Punkte abfahren müssen."

„Dann wird uns auch nicht langweilig", sagte Odin grinsend.

Ohne weiter auf den Muskelberg zu achten, gab Sheytan seine letzten Instruktionen. „Ich hoffe, Odin hat es nun verstanden. Unsere Aufgabe ist es, das Militär von Aaron wegzulocken, zumindest so lange es uns möglich ist. Das Militär möchte um jeden Preis weitere Anschläge verhindern, weswegen es unserer Spur folgen wird. Für uns wird es also ein Spiel mit dem Feuer, das für uns ebenfalls tödlich enden könnte. Deswegen möchte ich noch einmal wiederholen: Falls ihr nichts mehr von uns hört, dann ist der Auftrag gescheitert. Versteckt euch irgendwo auf dieser Welt, aber tretet niemals wieder Aaron unter die Augen. Ihr wisst, er duldet kein Versagen. Teresa, verstecke dich weiter zwischen Punkt 0 und A. Verhalte dich ruhig und dich wird niemand bemerken. Aniela, du hast vermutlich bereits dein Ziel erreicht. Ohne dich unter Druck setzen zu wollen, aber unerheblich wie erfolgreich wir mit unserem Auftrag sind, wenn du den Himmelsstein nicht besorgst, gilt die ganze Mission als gescheitert. Bring zumindest du dich in Sicherheit. Wir zählen auf dich."

Eden OdysseeWhere stories live. Discover now