Nullpunkt (2)

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In seinen Augen spiegelte sich seine Hoffnungslosigkeit.

An jenem Ort wirkte das Sonnenlicht so himmlisch hell, dass er wirklich glaubte, er hätte nach siebenhundert Jahren Krieg endlich verloren. Seine Uniform hatte ihn zumindest in der letzten Hälfte seines Lebens stets begleitet, doch die letzten Strapazen waren viel zu viel. Im Gegensatz zu seinem übermenschlichen Körper bestand sein liebstes Kleidungsstück nur aus Stoffen, Knöpfen und Schnallen. Was hielt ihn noch am Leben? War es seine Willenskraft, die sein schwaches Fleisch zusammenhielt? Hätte er nicht längst tausende Tode sterben müssen, wenn er doch wie seine Uniform eine bloße Zusammensetzung von verschiedenen Atomen war? Ganze Schiffe waren in den stürmischen Meeren untergegangen, während er als verletzliches, mickriges Geschöpf dem Ozean strotzen konnte. Die Stofffetzen, die seinen von Schrammen und geschlossenen Wunden gezierten Körper verhüllten, waren längst durchgeweicht. Die Wellen erreichten ihn manchmal nur bis zum Unterleib, während andere über seinen gesamten Körper schwappten. Mehrere Tage zitterte er schon am ganzen Körper, nicht mehr im Stande sich zu bewegen. Wenn er sich rührte, dann nur wenn er nach höheren Wellen das untergeschluckte Wasser wieder ausspuckte. Er war seit Tagen, wenn nicht sogar seit Wochen ausgehungert. Kein normaler Mensch hätte diese Tortur überleben können - wenn nicht er. Kein normaler Mensch hatte bereits so viele seelische Qualen überstehen müssen - wenn nicht er. Er war es wohl, der vom Schicksal mit so viel Pech und Glück zugleich gesegnet wurde.

Nach tagelangen Qualen ging ihm dennoch die Energie aus. Seine Halluzinationen kehrten zurück. All die Zeit war die Luft eisig kalt gewesen, bis in dem Moment, als ihm wieder einmal Eden erschien. Es schien fast, als käme sie nur zu ihm, wenn er am Rande des Todes stand. Nur in den schwärzesten Momenten spendete ihm sein persönlicher Schutzengel Gesellschaft. Oder viel schlimmer, sie wollte ihm einen Anreiz geben, endlich loszulassen. Der Himmel wirkte so grau wie das Licht, das auf sie fiel. Das kräftige Rot in ihren Haaren war verschwunden, ebenso das Strahlen in ihren Augen. Sie imitierte sogar seinen verblüfften Blick. Dabei war sie es doch, die ihm zielbewusst erschien, mit dem erhabenen Hinweis, was ihn auf der anderen Seite erwartete. Sie beugte sich über ihn und bette seinen Kopf auf ihrem Schoß. So umsorgend wie damals kümmerte sie sich um ihn.

Es war ihm so eisig kalt, dass er in jenem Moment seine Sehnsucht nicht mehr über seinen Hungertrieb stellen konnte. Er packte sie an ihrem Nacken und zog sich an ihr hoch. In derselben Sekunde versenkte er seine Zähne in ihrer Halsschlagader. Er hörte sie schreien, spürte, wie sie sich gegen ihn wehrte, doch am Rande des Todes blieb ihm nichts anderes übrig. Ihr warmes Blut tropfte von seinem Kinn. Mit jedem Schluck kehrte die alte Stärke in seinen demolierten Körper zurück. Der metallische Geschmack kletterte über seine Zunge, stürzte anschließend seine Kehle hinunter. Ihr Blut durchflutete jede Stelle seines Körpers mit einer himmlischen Wärme. Im Takt ihres Herzschlages hatte er an ihrem Hals gesaugt und dem belebenden Nektar gekostet. Erst dann kam er wieder zu Bewusstsein sowie zu der Erkenntnis, zu welchem Monster er in jenem Moment verkommen war. Sein Überlebenstrieb hatte ihn zu dieser Schreckenstat angestiftet, eine völlig fremde Frau zu verletzen. Sofort entfernte er seinen Kopf von der blutenden Wunde und drückte stattdessen seine Hand darauf, um diese so schnell wie möglich zu stillen. Kaum war diese geschlossen, sprang sie auf und lief die ersten Meter.

„Es tut mir leid!", schrie Nero und putzte mit dem verbliebenen Ärmel ihr Blut von seinen Mundwinkeln. „Bitte, lass mich ... Lass mich dich verarzten!"

Bei dem Versuch, sich aufzurichten, fiel er direkt wieder hin. Zwar konnte er seine Gliedmaßen wieder spüren, aber seine Sicht sowie seine gesamte Wahrnehmung fühlten sich verschwommen an. Er konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, wo genau er sich befand. Nur dank der Temperatur und den Meereswellen wusste er, dass er an einer eisigen Küste gestrandet war, die zudem nicht gut besucht war. Diese Frau, die er fälschlicherweise als Eden erkannte, war wohl eine harmlose Passantin, die ihn zufälligerweise auffand. Ihre Hilfsbereitschaft hatte er ihr damit gedankt, dass er sie fast zu Tode gebissen hatte. Noch nie war der einst stolze Graf von Hohenheim zu einer derart schockierenden Handlung gezwungen worden, doch es war sein Überlebenssinn, der ihn zu dieser Verzweiflungstat getrieben hatte. Wie konnte er dieser Passantin nur klarmachen, dass er kein Monster war?

Schwerfällig zog er sich mit seinem verbliebenen Arm in ihre Richtung und robbte nach vorne. „Ich wollte dir nicht wehtun! Ich war nicht bei Sinnen!"

„VERSCHWINDE!", schrie sie. Er konnte sie kaum verstehen, da selbst seine akustische Wahrnehmung noch nicht vollständig regeneriert war. Es war ohnehin ein Wunder, dass er sich so schnell wieder bewegen konnte.

Als er ihr näherkam, entdeckte er neben ihr einen fallengelassenen rundlichen Gegenstand, der ihr bis zum Knie ging. Womöglich ein Korb, den sie abgestellt hatte, bevor sie sich ihm angenähert hatte. In ihrer Hand erkannte er einen länglichen Gegenstand, der sich nach oben hin zu einer stählernen Masse verbreitete. Wahrscheinlich eine Axt, mit der sie sich auf Feuerholzsuche begeben hatte. Sofort schwang sie mit dem bedrohlichen Werkzeug umher. „VERSCHWINDE!", schrie sie erneut. „Ich habe keine Skrupel, dich kaltzumachen, du kranker Mistkerl!"

Nero bewegte sich keinen Meter mehr. „Es tut mir leid ... Ich war nicht bei Sinnen."

Er erkannte, wie sich ihre Gestalt langsam entfernte. Stets ihm den Blick zugewandt und mit der Axt im Anschlag. Aus der Entfernung konnte er nicht ihre Gesichtszüge geschweige denn andere Merkmale ausmachen. Spätestens als sie ihm mit einer Axt gewaltbereit gegenüberstand, wäre ohnehin jegliche Ähnlichkeit mit der sanftmütigen Eden verpufft. Immerhin ließ die Passantin nach den nächsten Metern von ihm ab und verschwand in der Ferne. Mit der erleichterten Gewissheit, dem Tod wieder einmal von der Schippe gesprungen zu sein, blieb Nero vorerst liegen. Schon bald würde er aufstehen und zu seiner Heimat zurückkehren können. Eine gewisse Furcht darüber, was er während seiner Abwesenheit verpasst hatte, würde ihn bis dahin verfolgen.

Eden OdysseeWhere stories live. Discover now