Kontakt (2)

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Mit letzten Kräften schaffte es die Truppe bis hin zum Licht am Ende des Tunnels. Noch nie waren sie so froh, die glühend heißen Sonnenstrahlen zu spüren. Die grüne Wiese wirkte im Gegensatz zu den feuchten Tunnelwänden wie der Himmel auf Erden. Sie liefen so schnell wie möglich die Wiese entlang, bis sie auf die erste asphaltierte Straße kamen. Vincenz fiel etwas von Fiona und Pedro zurück, die Nero stützten. Der Grund war eine andere Last, die er auf seinen Schultern stützen musste.

„Lass mich runter!", schrie Marlene.

„Tante Marlene!", keuchte Vincenz. „Warum bist du immer so launisch?"

Während die Seniorin umherstrampelte, wurde sie von ihrem Neffen widerwillig zu ihrem Auto transportiert. Sie war sogar im Besitz eines schicken, silbernen Oldtimers. Die Limousine sah noch aus wie am ersten Tag, bis auf ein paar wenige Kratzer, die Marlenes unvorsichtigen Parkversuchen geschuldet waren. Erst atmeten Fiona und Pedro auf, als sie das Fluchtfahrzeug entdeckten, verfielen aber sogleich in Schockstarre, als Tante Marlene sich hinter das Steuer zwängte.

„Du willst SIE fahren lassen?", fragte Pedro hechelnd? „Du willst heute unbedingt sterben, oder?"

Vincenz ließ sich auf den Beifahrersitz plumpsen. „Tante Marlene ist eine gute Fahrerin."

Fiona hatte Nero gerade auf den Rücksitz geschafft und sich neben ihn gesetzt, als Pedro noch argumentierend neben dem Auto stand.

„Willst du nicht lieber fahren?", fragte Pedro.

„Ich habe keinen Führerschein", sagte Vincenz schulterzuckend.

Kopfschüttelnd begab auch Pedro sich letztendlich auf die Rückbank. Vincenz Einschätzung von Tante Marlenes Fahrkünsten sollten sich bewahrheiten. Kaum war der Oldtimer gestartet, brachte die Seniorin den Wagen auf die ersten tausend Umdrehungen und fuhr mit qualmenden Reifen los. Auch wenn die mit Schlaglöchern versehene Landstraße die Insassen durchschüttelte, waren sie immerhin beruhigt, mit einer angemessenen Geschwindigkeit vom Fleck zu kommen. Sie dachten, sie hätten den rachsüchtigen Engel abhängen können, doch was sie nicht wussten: Aaron hatte ihre Flucht beobachtet.

Als wollte er nur die Landschaft genießen, saß der Engel auf einem der Hügel, ließ ein Bein zum Abgrund hinunter hängen und sah verträumt in die Ferne. Seine Lichtschwingen hatte er mittlerweile aufgelöst, sodass er wie ein fast ganz normaler, blutverschmierter Mensch wirkte.

Das erste Wiedersehen mit seinem alten Kameraden erinnerte ihn an seine jahrhundertelange Depression. All die Jahre war das Loch in seinem Herzen vernarbt, doch eine einzige Begegnung ließ die Wunden wieder aufreißen. Während er Nero in seinen Händen langsam ausbluten ließ, durchlebte er unweigerlich die Schmerzen von früher. All die Zeit gab es jemanden, der unter ähnlichen Bedingungen die Jahrhunderte totschlug. Sein Blutsbruder war ihm ähnlicher, als er es je geglaubt hatte. Er hatte nie über Neros Werdegang nachgedacht, ob sein Kamerad nicht auch von unzähligen Schicksalsschlägen zerbombt wurde. Doch warum war Aaron erfüllt von Hass, während Nero ohne jeglichen Zorn agierte? Wie konnte er diese Menschen um sich scharen, die sein Leben für ihn riskierten? Warum empfand er noch Hoffnung für diese graue Welt?

Aaron hätte ohne jegliche Probleme den Oldtimer einholen können, doch in jenem Moment zögerte er. Innerhalb seiner grausamen Verfolgungsjagd hatte er es noch nicht gespürt, doch als er für einen Moment innehielt, spürte er, wie sich das Loch in seinem Herzen mit einer Hoffnung füllte: Er war auf dieser Welt nicht allein.

Eden OdysseeWhere stories live. Discover now