Die Jagd (10)

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Diegos geschundenes Leben lag nun in Kains Händen. Fast leblos ruhte er auf dessen Schultern, als er aus dem Irrgarten getragen wurde.

Das anrückende Blaulicht fegte durch das stille Dörfchen, wo kurz vor Mitternacht alle Läden geschlossen und alle Lichter in den Häusern erloschen waren. Die Rettungskräfte wurden letztendlich von Kain alarmiert und auf die Maurier-Villa angesetzt. Er wusste nicht, ob die vergifteten Adeligen noch zu retten waren, doch zumindest bei Diego bestand noch eine geringe Chance. Er setzte Diegos verbrannten Körper am Straßenrand ab, gut sichtbar für die anrückenden Rettungskräfte. Gerne hätte er Diego persönlich den Notärzten übergeben, doch die verbleibende Zeit für die Bergung des Himmelssteins ging zu neige. Sobald die ersten Polizeikräfte die Villa auf den Kopf stellten, würde auch der unrechtmäßige Besitz des Relikts hart bestraft werden. Ihm blieben vielleicht noch fünfzehn Minuten, höchstens eine halbe Stunde, um den Himmelsstein zu finden.

Vorsichtig legte er Diego auf dem Straßenrand ab. Die Straßenlaterne beleuchtete Diegos vernarbte, verbrannte Haut, die aufgerissenen, blutigen Stellen. Er war nicht mehr wiederzuerkennen. Seine Haut war innerhalb weniger Sekunden vielleicht um die achtzig Jahre gealtert.

Kain verdankte selbst sein Leben der modernen Medizin, weswegen es zumindest im Entferntesten eine Gemeinsamkeit zwischen den beiden existierte. Er könnte ihm Mut zusprechen, dass seine äußerlichen Narben behandelbar seien. Doch egal wie weit die plastische Chirurgie mittlerweile fortgeschritten war, Diego würde ein Leben lang Wunden mit sich tragen, die ihn immer an diesen tragischen Tag zurückerinnern ließen. Im Gegensatz zu Diego war Kain noch im Kindesalter, als er ähnlich verstörte Szenen erlebte. Es war der Tag, als seine Mutter sich das Leben nahm. Da erkannte er, dass er nicht normal war. Auch er war ein zusammengeschraubter Freak, der den wichtigsten Menschen in seinem Leben verlor. Bevor er das Drama realisieren konnte, kam Helena, die ihm ihre helfende Hand reichte. Diego hingegen war sich seiner Tragödie absolut bewusst und musste in diesem Moment an nichts anderes denken können.

Kain ging vor Diego auf die Knie. „Ich kann mir kaum vorstellen, was du gerade durchmachen musst. Es wird dir wenig helfen, wenn ich dir erzähle, dass es mir einst so ähnlich ging. Der Mensch, den ich am meisten liebte, ging von mir, ließ mich alleine in dieser Welt. Ich weiß selbst nicht mehr, was mich weitermachen ließ ..."

Leblos lag Diego auf dem Asphalt und gab keine Regung von sich. Kain wusste nicht einmal, ob Diego seine Worte überhaupt vernehmen konnte, dennoch sprach er weiter.

„Du darfst dich von dieser Welt in keinem Fall verbittern lassen. Manche Menschen tun dir weh ... Sie scheinen dein Leben zu zerstören, doch dann triffst du wiederum auf Menschen, die dich deine Schmerzen vergessen lassen. Ich hoffe, dass du bald so einem Menschen begegnen wirst. Bis dahin ... versuche, die Schmerzen zu verkraften."

Schweren Herzens stand Kain auf. Die Blaulichter kamen immer näher. Er lief davon und hinterließ Diego den anrückenden Rettungskräften. Während Kain längst verschwunden war, offenbarte Diego eine klitzekleine Bewegung. Seine verkrampfte, rechte Faust öffnete sich, ließ zwischen den Fingerspitzen einen Dartpfeil auftauchen. Mit allerletzter Kraft nahm Diego aus und schleuderte den Dartpfeil in Kains Richtung. Für Kain war Diegos verzweifelter Angriff nicht mehr vernehmbar, noch hätte er ihn in irgendeiner Form erreichen konnte.

Der Pfeil zerschellte an der Bordsteinkante in seine Einzelteile.

Eden OdysseeWhere stories live. Discover now