Herz (2)

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Der orangefarbene Himmel wurde von blutroten Wolken geziert. Die Weizenhalme beugten sich der kühlen Abendbrise. Nicht weit von dem Landhaus entfernt lag ein Kornfeld, ein ähnliches in dem sich Nero und Eden zum ersten Mal vor Jahrhunderten trafen. Wie schon damals war der Engel von der idyllischen Aussicht eingenommen.

Nachdem Nero seinen Freunden stundenlang von dem gestrigen Abend berichtete, wollte Eden wieder einen Teil seiner Welt erleben. Sein kleines Umfeld, Fiona und Pedro, waren zwar schon alleine interessant genug, doch diese riesige, für sie fremde Welt, musste noch so viel mehr zu bieten haben. Da Eden bislang nicht viele Menschen erlebte, wusste sie auch Pedros und Fionas Reaktionen nicht einzuordnen. Während Pedro Neros Geschichte ständig mit sarkastischen Kommentaren befeuerte, blieb Fiona durchgehend still und flüchtete sogleich in ihr Zimmer, sobald die Erzählung beendet war. Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, würde sie niemals vermuten, dass das Trio so gut miteinander befreundet war. Die Welt der Menschen, samt ihren vielen Eigenheiten, blieb für sie vorerst noch ein Mysterium. Sie konnte es kaum erwarten, diese Welt so zu verstehen, wie Nero es konnte. Wie konnte er beim Anblick dieser phänomenalen Aussicht so ungerührt bleiben? Entweder hatte er sich an dieser Aussicht in siebenhundert Jahren bereits sattgesehen oder seine Aufmerksamkeit lag auf etwas anderem.

„Eure Welt ist wunderschön", sagte Eden begeistert.

Nero stand direkt neben ihr und sah mit ihr in die Ferne. Ab und an schielte er zu ihr rüber, beobachtete wie sie beim Anblick des blutroten Sonnenuntergangs wie ein kleines Kind an Weihnachten wirkte. Er konnte sich sein schelmisches Grinsen nicht verkneifen.

„Ich wünschte, jeder Ort dieser Erde wäre so schön geblieben", sagte er. „Doch auch diese Welt hat sich mit der Zeit verändert."

„Solange es in eurer Welt noch schöne Plätze wie diesen gibt, habt ihr nichts zu befürchten", sagte sie. „Die Welt der Engel hättest du nach dieser Aussicht vergebens abgesucht."

„Ich kann mir immer noch nicht vorstellen, wie eure Welt aussieht", sagte er.

„Sie ist kühl und steril ... so wie die Wesen, die sich dort aufhalten. Eure Welt ist chaotisch ... wechselhaft. Kein Stein gleicht dem anderen. Unsere Welt hatte eurer mal geähnelt, doch erst wurden wir kühl, dann unsere Welt. Wir passen uns nicht der Umgebung an, sondern verformen sie nach unseren Vorstellungen."

„Du musstest Aaron gekannt haben, oder? Der Engel, der für die Öffnung des Tores verantwortlich war. Er sagte mir, eure Welt stehe vor dem Untergang."

„Ich kannte ihn nicht persönlich, aber jeder von uns kannte seine Geschichte. Der Engel, der sich weigerte, zurückzukehren. Während seiner Abwesenheit hatte sich auch unsere Welt immer weiter verändert. Von euch Menschen gibt es noch über vier Milliarden. Von uns gab es damals noch hunderttausende. Mittlerweile sind wir auf ein paar wenige tausend geschrumpft. Der Wandel hatte sich schon vor siebenhundert Jahren angedeutet, doch dass sich so viel in Aarons Abwesenheit änderte, hätte selbst er nicht erwartet."

„Warum sollte eure Welt untergehen?", fragte er.

„Eines Tages hatten wir den Gipfel unseres Strebens erreicht", erzählte sie. „Wir hatten alles erreicht, was eine Evolution erreichen konnte. Nicht nur, dass unsere Bauten, unsere Technologien nahezu perfekt waren, irgendwann perfektionierten wir uns selbst. Wir brachten uns das Fliegen bei, wir machten uns unsterblich. Mit der Unsterblichkeit verloren wir sogar den Grund, uns fortzupflanzen. Unsere Welt wurde mit der Zeit zu perfekt, als dass sie noch Freude bereiten könnte. Unsere letzte Zuflucht war die Bewunderung durch euch Menschen. Wir sonnten uns jahrhundertelang in eurer Anerkennung, bis uns die ersten Menschen anzweifelten. Die Katastrophe von Babylon sollte der letzte Eingriff in eure Welt sein, sowie es wohl unsere letzte Begegnung bleiben sollte. Wir wollten ein Zeichen setzen, dass uns eure Hingabe für Jahrtausende sichern sollte. Doch nach und nach verloren die Menschen ihren Glauben an uns, obwohl wir ihnen in vielerlei Hinsicht überlegen waren. Es war der endgültige Beweis, dass unsere Perfektion keinen Eindruck schinden konnte. Stattdessen begnügten sich die Menschen mit ihren irdischen Werten, ihrer verrückten, krummen und chaotischen Welt. Diese Erkenntnis besiegelte den langsamen Untergang unserer Welt. Wir waren am Ende angelangt. Wir verloren den Sinn in unserer Existenz und unserem Schaffen. Um weiteren Enttäuschungen zu entgehen, sollte das Himmelstor für immer geschlossen bleiben. Ich kann nur von Glück sprechen, dass Aaron eine erneute Öffnung provozierte. Ansonsten hätten wir uns wohl nie wiedergesehen."

„Im Nachhinein könnten wir ihm also dankbar sein", sagte Nero nachdenklich. „Es ist grausam, dass er Dutzende Menschen in den Tod reißen musste. Ich wünschte, es hätte eine andere Möglichkeit gegeben."

„Es war wohl die einzige Möglichkeit", sagte Eden. „Unsere Einsicht auf eure Welt war stark begrenzt. Wenn ich etwas von eurer Welt mitbekam, dann wollte ich auch wissen, wie es dir geht. Nicht immer konnte ich deinem Schicksal folgen - doch wenn, dann erwischte ich dich oft dabei, wie du Hinweisen nach mir nachgingst. Selbst siebenhundert Jahre später hattest du mich nicht vergessen. Es brach mir das Herz, dir dabei zuzusehen, wie du jeder noch so kleinen, hoffnungslosen Spur nachgingst, denn ich wusste, dass es für dich keine Möglichkeit gab, mich jemals zu finden. Doch andererseits war es für mich ein unbeschreiblich schönes Gefühl, dir dabei zuzuschauen. Ich hatte mich noch nie so geliebt gefühlt, wie in diesen Momenten. Mit all deinen Bemühungen, deiner aufgebrachten Zeit, ungeachtet zu wissen, ob du mich jemals wiederfindest ... Jedes Mal hattest du mir damit gezeigt, wie sehr du mich liebst." Sie sah ihm tief in die Augen. „Ich habe mir geschworen, sollte sich nur die kleinste Möglichkeit auftun, wieder in diese Welt zurückzukehren, dann werde ich sie nutzen. Nur um dir eines zu sagen ..."

Nero lächelte sie verlegen an. „Du willst diesen Tag wirklich zu dem schönsten Tag meines Lebens machen?"

Sie umklammerte seinen Nacken. „Du hast es mir auf deine Art schon tausend Mal gesagt. Ich glaube, nun bin ich an der Reihe." Sie ging auf die Zehenspitzen und zog ihn an sich heran. Kurz bevor ihre Lippen sich berührten, sagte sie es mit einem breiten Lächeln: „Ich liebe dich auch."

Eden OdysseeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt