Das Lieben nach dem Tod (6)

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Tage der Bedeutungslosigkeit vergingen. In Anbetracht Neros Unsterblichkeit und der Ewigkeit, die vor ihm lag, fühlten sich jene Tage nur wie eine kurze Episode an. Trost spendeten ihm nur die Gemälde an seiner Wand, die ihn wieder träumen ließen.

Auch wenn ihn zurzeit die Leere plagte, so waren doch seine Erinnerungen der Beweis, dass es zumindest etwas gegeben hatte, was sein Leben lebenswert gestaltet hatte.

Er war wirklich derjenige, der mit so viel Pech und Glück zugleich gesegnet wurde. Sein Schicksal war es, alles zu verlieren, was ihm am Herzen lag, doch im Gegenzug die schönsten Gefühle zu erfahren, die einem Menschenleben vorbestimmt war.

Sein Blutsbruder Alfons lehrte ihn wahre Freundschaft. Fiona offerierte ihre bedingungslose Loyalität in seinen schwächsten Zeiten. Eden schenke ihm eine jahrhundertelang anhaltende Liebestrunkenheit. Welcher Mensch konnte sich schon damit brüsten, jene Schätze gekostet zu haben?

Die Blüten der Vergangenheit waren wohl der Grund, warum er noch am Leben festhielt. Was auf der anderen Seite lag, konnte er nicht wissen. Die Gefahr, all seine schönen Erinnerungen zu verlieren, war viel zu hoch, als dass er die Chance auf ein Paradies riskieren wollte. So lange sein übermenschlicher Blutkreislauf nicht aufgab, würde seine Reise weitergehen, auch wenn kein Ziel in Sicht war.

An jenem trüben Morgen durchfuhr ihn ein erfrischender Gedankengang, der ihn aus seiner komatösen Nostalgie herausriss. Selbst wenn er zu so viel Glück und Pech verflucht wurde, so sollte es doch noch jemanden auf dieser Welt geben, der ansatzweise so war wie er. Fast hätte er die unangenehme Begegnung mit Lazarus vollkommen verdrängt, doch ein einziger Fetzen dessen unglaublicher Erzählung spukte durch seinen Kopf. Gerade als der Engel von Edens irdischer Version erzählt hatte, wirkte er im Vergleich zu seiner sonst kühlen Erscheinung fast leidenschaftlich. Warum hätte er Nero anlügen sollen? Hätte er ihn in eine Falle locken und umbringen wollen, so wäre dies bereits im Turm der Wachter AG geschehen. Lazarus hatte um seine Hilfe gebeten und viel wichtiger: Es gab eine winzige Chance, dass es sie wahrhaftig gab – die Eden aus Babylon.

Es war äußerst verwunderlich, warum Pedro bereits am frühen Morgen nach Hause kam. Sonst blieb er nächtelang fort, ehe er verschlafen zur Nachmittagszeit erschien. Viel überraschter war jedoch Pedro, als er den Grafen nicht dabei erwischte, wie dieser von seinem Sessel aus die Gemälde anstarrte. Stattdessen stand Nero direkt vor ihm und blickte ihn fordernd an.

„Kannst du eine Weile auf die Katzen aufpassen?"

„Sollte ich hinbekommen", sagte Pedro perplex. Erst jetzt fielen ihm die zwei gepackten Koffer im Hintergrund auf. Selbst Neros Degen lag zwischen dem Gepäck. Wie gewohnt ruhte dieser in der mit schwarzem Leder ummantelten Schwertscheide. Seit Alfons Tod hatte der Graf seinen geliebten Degen nicht mehr angerührt und in seinem Schrank verstauben lassen. Dass er ihn nun wieder auspackte, ließ nur eine Schlussfolgerung möglich. „Darf ich raten? Du willst wieder dein Leben aufs Spiel setzen."

„Du kennst mich viel zu gut", sagte der Graf lächelnd.

„Um Fionas Willen sollte ich dich aufhalten, aber du gefällst mir besser, wenn du dich blindlings in die nächste Katastrophe stürzt. Ein Leben im Schaukelstuhl passt nicht zu dir."

„Lass uns hoffen, dass es diesmal nicht in einer Katastrophe endet."

Pedro schmunzelte und zeigte auf den vergoldeten Griff des Degens. „Willst du das Ding wirklich mitnehmen? Ich meine, hat es bisher nicht die skurrilsten Gestalten angezogen?"

„Ich erinnere mich daran, dass ich dieses Ding bei mir trug, als wir uns das erste Mal begegnet sind." Nero zuckte mit den Schultern. „Fluch und Segen zugleich."

„Wenn du schon den lustigen Grafen auspackst, heißt es wohl, dass die Kacke bereits am Dampfen ist." Pedro legte sein Grinsen nieder. „Wird das hier ein Abschied für immer?"

„Die Zeit lehrte mich, dass ich nicht in diese Welt gehöre." Neros Gesichtsausdruck wurde ernster. „Für Fiona war ich all die Zeit nur eine falsche Hoffnung gewesen. Vielleicht ist es meine Bestimmung, fortzugehen. Eine kleine Spur ließ mich aufhorchen und eine neue Hoffnung finden. Irgendwo da draußen soll es eine Seele geben, die ebenso verloren ist wie ich. Wenn es sie wirklich gibt, muss ich sie treffen. Ich frage mich, ob sie genau so ist wie ich – genau so kaputt und in der Zeit angehalten."

„Ich werde dich wohl nicht aufhalten können", sagte Pedro. „Geschweige denn kann ich nachvollziehen, was dich wieder geritten hat. Aber ich glaube, unsere Fiona wäre froh, dich wieder so zu sehen: Voller Tatendrang und kurz davor in das nächste Schlamassel zu geraten."

Nachdenklich sah Nero zur Zimmerdecke. „Wenn sie uns wirklich von da oben aus beobachten kann, soll ihr schließlich nicht langweilig werden."

„Dann mach's gut", sagte Pedro lächelnd. „Und komm mir ja in einem Stück zurück."

Der Graf wollte keine leeren Versprechen mehr aussprechen. Bevor Pedro den nächsten Spruch anstelle eines Lebewohls abfeuern konnte, kam ihm Nero zuvor. Überrascht blieb Pedro regungslos, als Nero ihn umarmte. Fast schien es, als wäre Neros bitterliche Leere verschwunden, so herzlich wie er seinen langjährigen Freund in die Arme nahm. Auch wenn er es auch nicht aussprechen wollte, sein Abschied klang nach einem Lebewohl.

„Pass bitte gut auf Fionas Katzen auf."

Eden OdysseeWhere stories live. Discover now