Kontakt (5)

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Teresa hatte ihren Koffer immer noch nicht ausgepackt. Das Gästezimmer wurde für die zwei Frauen der Tyrannis-Einheit reserviert, doch als Aniela spontan abreisen musste, wurde ein weiteres Bett frei. Bevor Odin auf die Idee kam, sich in dem Zimmer einzurichten, belegte Teresa vorsichtshalber das Doppelbett mit ihrem sperrigen Koffer. Ihren Rollstuhl hatte sie bis vor das Fenster geschoben, sodass die letzten Sonnenstrahlen des Abends ihr Gesicht streiften. Auch sie spürte, dass etwas Undefinierbares in der Luft lag. Es war eine böse Vorahnung, dass dies ihr letzter Tag auf dieser Welt sein könnte. In ihrer geistigen Abwesenheit bemerkte sie nicht einmal Aaron, der an der Türschwelle stand.

„Ich wollte gleich mit der Missionsbesprechung beginnen", sagte er, doch stieß auf taube Ohren. Kaum vorstellbar für ihn, dass er nach seinen imposanten Auftritten derart ignoriert wurde. Jeden anderen hätte er für seine Respektlosigkeit bestraft, doch Teresa stach in vielerlei Hinsichten aus der Tyrannis-Einheit heraus. Als Aaron durch das Ferienhaus schritt, erstarrte jedes andere Mitglied vor Ehrfurcht, sobald es nur seine Schritte vernahm. Das Auftreten der übrigen Mitglieder strotzte von deren vitalen Kräften und Erfahrungen im Gefecht. Vincenz hatte Aaron bereits in der Stadt der Engel bewiesen, dass sich ein Mitglied der Tyrannis-Einheit zu verteidigen wusste. Auch wenn er Aaron immer noch chancenlos unterlegen war, so hatte er ihn doch einige Zeit in Schach halten können. Die übrigen Mitglieder mussten Vincenz in ihren Fähigkeiten nicht nachstehen, dennoch zuckten sie nur bei bloßem Blickkontakt mit Aaron zusammen. Teresa hingegen zeigte keinerlei Furcht vor ihm und das, obwohl sie sich auf den ersten Blick als schwächstes Mitglied der Einheit präsentierte. Ihre bleichen, dünnen Arme standen im Kontrast zu den schwarzen Armlehnen ihres Rollstuhls. Sie sah niemandem direkt in die Augen, schaute oft unter sich, sprach verhältnismäßig leise und selten. Selbst im Umgang mit ihren langjährigen Kollegen agierte sie schüchtern und zurückhaltend. Sie wirkte in einem Trupp aus erfahrenen Attentätern vollkommen deplatziert. Doch aus irgendeinem Grund musste sie seit Jahren in dieser Spezialeinheit verweilen. Aaron ahnte bereits, dass ihre Schwäche vielleicht ihre größte Stärke war.

Wie schnell hatte man sie mit einem flüchtigen Blick abgeschrieben, während man sein Augenmerk auf die Fähigkeiten der anderen Mitglieder richtete. Ihr unscheinbarer Charakter musste zu ihrer Rolle gehören, die sie vor Aaron bislang perfekt spielte. Sie musste sein Mitleid provozieren, sie musste vor ihm schwach wirken, sodass er keinerlei Groll ihr gegenüber hegen konnte. Während die offensiv kräftigen Mitglieder Aaron nichts anhaben konnten, so siegte Teresa durch ihre bloße Unscheinbarkeit. Aaron wusste, so lange er sie unterschätzte, beherrschte sie ihn. Er hinterfragte all seine bisherigen Aktionen in der Hinsicht, wie er Teresa behandelt hätte, wenn sie so selbstbewusst und sportlich wie Aniela aufgetreten wäre. Hätte er sie nicht in Sekundenschnelle gedemütigt oder gar zerstückelt? Doch Teresa saß nun vor ihm, vollkommen unversehrt und besaß die Dreistigkeit, ihn zu ignorieren. Aaron konnte sich ihrem Einfluss nur entziehen, indem er sie wie die anderen Mitglieder behandelte.

Eine einzige Lichtschlange brach aus seinem Rücken aus, schlängelte bis hin zu Teresas Koffer und peitschte diesen vom Bett. Der Koffer flog lautstark gegen die Wand, ehe er aufbrach und Teresas Gepäck im Zimmer verteilte.

Teresa erschrak auf der Stelle und blickte intuitiv in Aarons Richtung. Sie sah gerade, wie die Lichtschlange wieder verpuffte.

„Ich habe mit dir gesprochen", zischte er mit bissigem Unterton.

„Es tut mir leid", sagte sie mit glockenklarer Stimme. „Ich war gerade in Gedanken versunken."

Sie sah ihm nun in die Augen. Ein sturer Blick, kein bisschen der aufgeregten Situation angepasst. Es war derselbe emotionslose Gesichtsausdruck, den sie ihm bisher in jeder Situation offenbarte. Weder wirkte sie dabei kühl, noch herabwertend, sondern viel mehr interessiert und offen.

Eden OdysseeWhere stories live. Discover now