Geisel dieser Welt (12)

4 1 0
                                    

„Mein Herr?", fragte Zeki zaghaft.

Mit aufgerissenen Augen starrte er durch die zerbrochene Fensterscheibe und des dahinterliegenden Meerblicks. Trotz der unzähligen Bestrafungen und den ermahnenden Schlägen auf den Hinterkopf, war es um die Gehirnkapazitäten des gepeinigten Leichtturmwärters so gut bestellt, dass er sich zumindest ausmalen konnte, was mit seinem Herrn geschehen war.

Auch Celes stand am Rande der aufgebrochenen Glaswand. „Nero?" Sie sah ihn erwartungsvoll an. „Du hast ihn doch nicht ..."

Ob Nero ihr damit ein Geschenk bereitete oder sie in ein weiteres Unglück stürzte, konnte er kaum einschätzen. Er wusste nur, dass so lange die Engel in dieser Welt ihr Unwesen trieben, Celes und er ihnen verfallen waren. Wie glücklich sie in kurzen Intervallen auch mit ihnen waren, die Engel waren all die Zeit nur ihre barmherzigen Sklaventreiber gewesen. Dass Celes und auch Nero trotz dieser widrigen Umstände etwas wie Liebe für ihre Peiniger entwickelten, hatten sie damals mit ihrer jugendlichen Naivität begründet. Mit weiteren Jahrhunderten und den sich ausbreitenden Löchern in ihren Herzen, lernten sie, dass ihre Sehnsucht nicht auf ihrer damaligen Unwissenheit basierte. Es war schlichtweg menschlich, dass sie eine Wiedergutmachung für ihr verlorenes Vertrauen forderten und diese von ihren Peinigern persönlich verlangten. Die übermenschlichen Engel dagegen konnten ihre Flehen und Bitten bis zum Schluss nicht nachvollziehen. So lange es noch die winzige Möglichkeit gab, dass Celes oder Nero mit ihren Engeln in Kontakt treten könnten, würden sie ihrer bitterlichen Illusion nach Liebe nachjagen, egal wie viel Schmerzen diese Reise ihnen bereitete. Die einzige Möglichkeit, diesen Teufelskreis zu durchbrechen, war, die Engel von dieser Welt zu verbannen.

Auf die unausgesprochene Frage von Celes, ob er Lazarus umbringen wollte, wählte Nero eine versöhnlichere Antwort als die brutale Realität.

„Du bist frei", sagte er.

Während Celes sprachlos dastand, warf der Leuchtturmwärter triumphierend beide Arme in die Luft.

„ICH BIN FREI", schrie Zeki. „Endlich! Nach all den Qualen und Demütigungen ist dieser gottlose Bastard verreckt!"

Nero warf dem durchdrehenden Leuchtturmwärter einen skeptischen Blick zu. „Eigentlich hatte ich gar nicht mit dir gesprochen."

Dennoch hatte Zeki Neros Verkündigung gerne auf sich bezogen, denn so lange es niemanden mehr gab, der ihn drangsalierte und mit Gewaltandrohungen hörig hielt, hatte er keinerlei Grund mehr, im Leuchtturm zu bleiben. Fröhlich hüpfte er durch das Zimmer und hob eines der umgeworfenen Bratenstücke auf. Obwohl es auf den Boden gefallen war, machte er keine Anstalten, das Fleisch in sein krummes Gesicht zu stopfen. „WIE GEFÄLLT DIR DAS!", brüllte er und hustete Teile seines heruntergeschlungenen Essens wieder heraus. „Mein HERR! Mein Herr ist tot! Zeki sei dumm, hatte er behauptet! Hahahaha! Aber der dumme Zeki lebt noch und mein schlauer HERR ist tot! Mausetot! HÖRST DU MICH? SCHMOR IN DER HÖLLE, DU GOTTLOSER BASTARD!"

Während der Leuchtturmwärter abdrehte, stand Eden traumatisiert am Rande der zerbrochenen Scheibe.

„Kannst du mich auch befreien?", fragte sie.

Nero drehte sich besorgt zu seiner Eden. Während seiner Taten hatte er sie ausgeblendet. Vielleicht war es das erste Mal seit Jahrhunderten gewesen, dass er vorrangig an sein eigenes Glück dachte, als er Celes und sich von dem Fluch der Engel befreien wollte.

„Das hier bin nicht mehr ich", sagte sie und blickte auf ihre blassen Hände. „Ich möchte mehr sein als nur eine schmerzhafte Erinnerung." Barfuß schritt sie über die zerbrochenen Scherben. Blaue Funken materialisierten sich als ihre Engelsflügel. „Ich will aus diesem Albtraum aufwachen."

Hatte sie Neros Schmerz erst verstanden, als ihr Geist in die nächstbeste Leiche gesperrt und anschließend ähnlich einsam auf dieser Welt zurückgelassen wurde?

„Befrei mich, bitte", sagte sie noch, als sie aus dem Fenster stürzte. Ihre blauen Flügel glühten Löcher in die grauen Wolken.

Was auch immer sie vorhatte, er konnte sie nicht aufhalten. Das hatte er nie gekonnt.

Celes hatte mittlerweile alle Versuche eingestellt, die Engel in irgendeiner Form zu verstehen. Nur der Graf, der ähnlich irritiert sein musste wie sie, konnte ihr noch eine Richtung weisen.

„Was machen wir jetzt?", fragte sie.

„Mein Angebot steht noch immer", sagte er. „In meinem Haus ist wirklich noch ein Zimmer frei."

Sie sah ihn überrascht an. Trotz der bedrückenden Gewissheit, ihren Lazarus zum letzten Mal gesehen zu haben, konnte ihr Nero ein kurzes Lächeln entlocken. „Du hast echt nicht mehr alle Tassen im Schrank."

Sie war erstaunt, wie befreit sie sich in diesem Moment fühlte. Ein Teil von ihr wollte weinen, der andere wollte lachen. Im Gegensatz zu den bisherigen Trauerphasen ihres Lebens wollte sie sich nicht im Selbstmitleid suhlen und ihrem Verlust gedenken, sondern sich darauf konzentrieren, wie sie die aufkommende Trauer ignorieren und anschließend bewältigen könnte. Der Mann, den sie liebte, war bereits seit Jahrhunderten für sie gestorben. Der Irre, der ihre verstorbene Tochter wie eine Marionettenfigur behandelte, war für sie eine abstrakte Gestalt, für die sie keinerlei Gefühle mehr hegte. Ihre Liebe für ihn war längst Vergangenheit. Es lag nun an ihr, ob sie sich dies eingestehen konnte.

Nero sah sie ernst an. „Wenn wir hier sind, sollten wir die Chance nutzen und alles niederbrennen ... dieses verfluchte Gebäude mitsamt seiner Technologie. Doch diese Entscheidung möchte ich dir überlassen."

„Mir?"

„Fiona ... Wenn wir diesen Wahnsinn beenden, wirst du auch sie verlieren."

„Was ist mit Eden?" Durch ihre Frage konnte sie die Verantwortung wieder an Nero übergeben, da auch er Interesse an der Weiterführung der unheimlichen Technologie haben könnte.

„Sie hat eingesehen, dass sie nicht mehr sie selbst ist", sagte er. „Gerne würde ich es verhindern, ihr wehzutun, aber ich sehe keine andere Möglichkeit. Diese teuflische Technologie gehört einfach nicht in unsere Welt."

„Lass uns schnell gehen, bevor ich es mir anders überlege", sagte sie.

Mit gegenseitigem Einverständnis verließen beide den Raum und begaben sich zur Spindeltreppe. Der jubelnde Zeki kam hinterhergerannt, in der einen Hand immer noch ein Bratenstück, das er bereits zur Hälfte in sich reingeschlungen hatte.

„Seinen Technikmüll findet ihr im Keller", schrie er ihnen hinterher. Voller Vorfreude hüpfte er hinterher, sprang an einem Stück sogar mehrere Stufen der Spindeltreppe auf einmal herunter. „ZERSTÖREN WIR ALLES, WAS IHM JEMALS LIEB WAR. HAHAHAHAHAHAHAHA! AUF DEN MÜLL MIT SEINER TECHNIKSCHEISSE! HAHAHAHA! MÜLL! MÜLL! SONDERMÜLL!"

Die Spindeltreppe führte sie wieder zurück in die dunklen Gemäuer. Das kranke Lachen des Leuchtturmwärters hallte durch die Stockwerke. Trotz der amüsanten Vorstellung Zekis konnten weder Celes noch Nero ausblenden, welche folgenschwere Vorstellung sie im Keller erwarten sollte. Es war kaum vorstellbar, dass sie inmitten der Finsternis ihren Frieden finden könnten. 

Eden OdysseeWhere stories live. Discover now