Kontakt (1)

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„Was ist nur aus dir geworden?"

Aus Neros Wunde tropfte eine blutige Strähne hinab, die den überfluteten Boden verfärbte. Je fester Aarons Würgegriff wurde und je näher Nero der Bewusstlosigkeit kam, desto weniger nahm dieser die Szenen der Realität wahr. Vor seinem Auge spulten sich die letzten Erinnerungen an seinen damaligen Kameraden Alfons ab. Er erinnerte sich an jede freundliche Geste. In jenem Moment spürte er nicht das schmerzende Loch in seinem Bauch. Er verdrängte all seine Schmerzen mit seiner Schuld, die er gegenüber seinem Kameraden empfand. Jegliche Pein nahm er hin, nur um einen kleinen Teil Wiedergutmachung zu leisten. Während er sah, wie ihm Alfons seine Hand auf seine Schulter legte, ihm sagte, dass er nach jenem grausamen Krieg endlich seine Familie finden würde, nahm er aus Dankbarkeit jegliche Schmerzen hin.

Fiona und Pedro erkannten nur Aarons und Neros Silhouetten in der goldenen Lichtsäule. Unten am Boden waren sie vollkommen machtlos. Selbst Fionas wimmernde Schreie fanden bei Aaron kein Gehör.

„LASS IHN BITTE LOS!", schrie sie. „Er war doch dein Freund!"

Pedro war wie erstarrt. Noch nie hatte er den Grafen so hilf- und wehrlos zugleich erlebt. Bislang hatte Nero in keiner Sekunde auch nur den Anschein einer Schwäche gezeigt, sondern jeder Bedrohung mit einem Lächeln getrotzt. Nicht nur, dass von allen Begegnungen Aaron mit Abstand die gefährlichste war, gerade in jenem Moment verlor Nero seinen Siegeswillen. Nach Pedros neutraler Betrachtungsweise hatte der Graf eine moralisch vertretbare Entscheidung getroffen, als er Johanne zugunsten von zahlreichen Menschenleben richtete, dennoch musste der Graf auch den Zorn seines ehemaligen Kameraden akzeptieren, weswegen er keinen ernsthaften Verteidigungsversuch unternahm. Er schien seit Jahrhunderten auf diese Bestrafung gewartet zu haben.

„Du darfst nicht auf ihn hören!", appellierte Pedro. „Wenn er wirklich dein Freund wäre, würde er dich nicht umbringen wollen! Wach auf! Er ist nicht mehr dein Freund von damals!"

Auch Pedros Worte erwirkten keine Veränderung der brenzligen Situation. Neros Blutverlust gab auch ihm Grund zur Panik. Der Graf machte nicht einmal Gebrauch von seinen übernatürlichen Fähigkeiten, um seine Blutung zu stoppen. Pedro wusste, dass selbst Nero nicht mehr lange standhalten konnte. Sollte Nero vor Fionas Augen sterben, so würde sie an Ort und Stelle umkippen. Aaron hätte keinerlei Interesse an ihrem Überleben, vor allem nicht nachdem er seine Fähigkeiten vor zwei potentiellen Zeugen offenbarte. So lange Aaron noch mit Nero beschäftigt war, hätte Pedro mit Fiona fliehen können, doch niemals hätte Fiona ihren Freund in dieser Situation zurückgelassen. Als Pedro über diesen feigen Ausweg nachdachte, verkrampfte sich in ihm alles gegen diesen letzten Notausgang. Gerade als er bereits innerlich abgeschlossen hatte, ertönte ein donnernder Knall, der ihn aus seinem pessimistischen Szenario entriss. Auch Fiona hörte für einen Augenblick auf, zu schreien. Sogar Aaron hielt inne. Zeitgleich zu dem donnernden Knall, wickelten sich Aarons Lichtschlangen zu einem schützenden Kokon zusammen.

Kurz nach dem ohrenbetäubenden Knall zerplatzte die Pistolenkugel an der Lichtbarrikade. Überrascht sahen Pedro und Fiona in Vincenz' Richtung, der sich unbemerkt an sie herangeschlichen hatte.

„Vincenzo?", fragte Fiona wimmernd. „Was machst du denn hier?"

Vincenz umklammerte seine Handfeuerwaffe. Durch die dicken Brillengläser fokussierte er den blauleuchtenden Kokon an. Sein Schuss konnte Aaron nicht verletzen, aber Fiona und Pedro aus ihrer Schockstarre reißen. Auch wenn Vincenz nicht mit Neros Fähigkeiten ausgestattet war, weckte er bei beiden ein Fünkchen Hoffnung.

Der Lichtkokon öffnete sich so weit, dass Aaron hinausschauen konnte. Er sah ebenfalls verwundert auf Vincenz herab, ein Mitglied der Einheit, die er ursprünglich für seine Zwecke engagiert hatte. Zuvor hatte er noch die Tyrannis-Einheit beauftragt, ihn bei seiner Expedition zu unterstützen, doch nun fiel ihm der augenscheinlich Harmloseste von ihnen in den Rücken.

Eden OdysseeWhere stories live. Discover now