Die Stadt der Engel (3)

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Das gleichmäßige Piepsen des Elektrokardiodiagramms übertönte das entspannende Rauschen der Meereswellen. Aus dem obersten Stockwerk des Gebäudes hatte Kain die beste Sicht auf das weite Meer. Die graue See sah zeitgleich so still und auch gefährlich aus. Der Nieselregen heftete sich an die Panoramafensterscheibe wie ein durchsichtiger Schleier.

Die Aussicht auf das endlose Meer konnte Kain einen Augenblick von den musternden Blicken aus dem Hintergrund ablenken. An der Tür standen zwei breitgebaute Männer in schwarzen Anzügen, wahrscheinlich viel besser bewaffnet als jeder von Krylows Söldnern. Obwohl Kain beide an jenem Tag zum ersten Mal sah, hasste er sie bereits seit Sekunde eins. Sie waren es, die ihm jegliche Privatsphäre nahmen und diesen Raum in ein Gefängnis verwandelten.

„Er ist wunderschön."

Kains Aufmerksamkeit wurde zu dem heimlichen Mittelpunkt des Raumes gelenkt, obwohl er geographisch in der hinteren Ecke eingerichtet wurde. Er setzte sich wieder neben das Krankenbett, rückte seinen Stuhl näher zu der ihm entgegengestreckten, faltigen Hand. Über die Grenzen des Bettes ragten einst blonde Locken hinaus, die im Laufe der Zeit ergraut waren. In dem bleichen Gesicht leuchteten hellblaue Augen kindlich auf. Dasselbe Leuchten, das Kain in Vincenz Augen erkannte, als er am Tag zuvor von seiner Mutter erzählte.

„Freut mich, dass er dir gefällt."

Der Himmelsstein kullerte von einer Ecke zur anderen. Er war in einem gläsernen Kasten eingesperrt, in einem Gefäß, wo er seine wahre Macht nicht entfalten konnte. Die faltige Hand wiegte dieses würfelartige Gefäß und beobachtete den Himmelsstein aus jedem möglichen Winkel. Kain hingegen betrachtete die zusammengekauerte Gestalt in dem Krankenbett. Sein Magen drückte sich zusammen, wenn er sich die Frage stellte, wie eine Person innerhalb von wenigen Jahren um Jahrzehnte altern konnte. Die einst starke Frau, zu der Kain all die Zeit aufsah, war nun auf seine Hilfe angewiesen. Sie benötigte die beiden Anzugträger, die bei einem Notfall sofort einschreiten konnten. Sie benötigte die medizintechnischen Geräte am Rande des Bettes, um ihr Leben soweit wie möglich in die Länge zu strecken. Das war der Teil, den Kain seinem Halbbruder verschwiegen hatte.

„Und Vincenz hatte dir geholfen, den Himmelsstein zu erhalten?", fragte sie.

Er nickte. „Ohne ihn hätte ich es nie geschafft."

Mit einem Lächeln betrachtete Helena den eingeschlossenen Himmelsstein. „Es wundert mich, dass er dir geholfen hat."

„Ich glaube, er hat sich geändert. Er sagte mir, er wäre wieder zu einem Gespräch bereit."

„Wirklich?", fragte Helena überrascht. Jedes Anzeichen, dass Vincenz sich geändert hatte, war ihr gut genug. Sie wollte fest daran glauben, dass er nicht mehr der Mensch war, den sie bei ihrem letzten Zusammentreffen aus dem Gebäude befördern ließ. „Ich würde ihn so gerne noch einmal sehen. Sag, kannst du ihn anrufen?"

Kain dagegen wusste, dass Vincenz immer noch fehlgeleitet war. Immer noch verschwendete er sein Leben innerhalb der kriminellsten Kreise, die diese Welt zu bieten hatten. Noch würde er ihr das schwache Herz brechen.

„Die Ärzte sagten, du solltest dich schonen", sagte er umsorgend.

„Wenn es dir besser geht, werde ich ihn sofort anrufen."

„Oh, sei nicht so pingelig", sagte Helena enttäuscht. „Mir wird schon nichts passieren."

„Weißt du noch, wie eure letzte Begegnung endete?", fragte er. „Es hatte dich am Boden zerstört und du warst damals noch in einer besseren Verfassung."

„Du hast ja recht", sagte Helena und blickte mitleidig auf den eingeschlossenen Himmelsstein. Sie hob ihn an und streckte ihn Kain entgegen.

Kain konnte das Relikt nicht anschauen, ohne an die zahllosen Strapazen und Opfer zu denken, welche die Jagd nach dem Himmelsstein gefordert hatte. Gerne wüsste er, was Helena nun mit diesem Schatz vorhatte. Da sie sich ohnehin alle materiellen Wünsche erfüllen konnte, lag es ihr fern, den Stein für einen höheren Gewinn weiterzuverkaufen. Umso erstaunlicher war er von Helenas nächster Geste. Sie legte den Glaskasten, der den Himmelsstein einzäunte, in Kains Hände. Ihr farbenfrohes Lächeln stand im Kontrast zu dem grauen Stein.

„Alles Gute zum Geburtstag."

Sprachlos hielt Kain den Glaskasten in seinen Händen.

„Freust du dich nicht?", fragte sie.

„Danke", sagte Kain erstaunt. „Aber warum schenkst du mir den Himmelsstein?"

„Er war von Anfang an nur für dich gewesen", sagte sie. „Ich wusste nicht, was ich dir ansonsten schenken sollte. Du hast ja schon alles."

„Du hättest mich fragen können", sagte Kain fassungslos. „Ein Pullover hätte es auch getan."

Während Kain die grausamen Erinnerungen an die Jagd des Himmelssteins mit einem Lächeln überspielte, lachte ihn Helena an. Bei ihrem kindlichen Lachen ähnelte sie Vincenz wie aus dem Gesicht geschnitten.

Eden OdysseeWhere stories live. Discover now