Geisel dieser Welt (9)

3 1 0
                                    

Die gläsernen Wände der Leuchtturmspitze offenbarten die Aussicht auf das graue Meer. So trostlos und eiskalt wie die stürmischen Wassermassen am Strand verendeten, drohte Celes' Tag zu Ende zu gehen. Auf ein Neues würde sie diese hoffnungslose Aussicht erwarten, ebenso grau würde jeder weitere Tag verlaufen. Sie wusste nicht mehr, ob sie sich in diese Gegend verliebte, weil sie die Menschenleere und Kälte bevorzugte, oder ob es daran lag, dass die Atmosphäre einem Spiegel ihres tiefsten Inneren glich. Als Lazarus sich ihr von hinten näherte, seine Arme um sie wickelte und sie in eine kühle Umarmung schloss, musste sie nicht mal mehr erschaudern. Ein Teil von ihr war froh über seine Geste, da er sich immerhin Mühe gab, ihr ein Gefühl von Geborgenheit zu simulieren. Der andere Teil war sich seines Schauspiels bewusst und fürchtete bereits, als eine der vielen Kopien zu enden, mit denen er seine perfekte Familie nachstellte. Bevor sie das Schreckensszenario weiterspinnen konnte, polterten aus den untersten Etagen des Leuchtturms Zekis hektische Schritte. Das war der Moment, als Lazarus sie aus seiner Umarmung entließ.

„MEIN HERR!", heulte Zeki. „Ich konnte sie nicht aufhalten! Es tut mir so leid! Es tut mir so leid!"

Bevor Zeki die Spindeltreppe hochhumpeln konnte, platzten sogleich Nero und Eden in die oberste Etage. Sie zog mit beiden Händen an seinem Handgelenk, in der Hoffnung, sie könnte ihn wieder mit nach unten ziehen, doch er stampfte unaufhaltsam bis in die Mitte des Raumes.

„Haben dir die Brote nicht geschmeckt?", fragte Lazarus.

„MEIN HERR!", schrie Zeki. „Bitte verzeiht mir, ich konnte die Eindringlinge nicht aufhalten." Er umgriff seinen elektrisierenden Stab und humpelte in Neros Richtung. „Ich werde mich darum kümmern! Er wird Euch nicht länger belästigen!"

Nero hatte sich mittlerweile die Aufmerksamkeit aller Beteiligten gesichert. Während Eden und Zeki sich beide einig waren, dass der Graf nicht in diesen Raum gehörte, überwogen bei Celes und Lazarus die Neugier über die Beweggründe des emotionalen Eindringlings.

„Celes?", fragte Nero. Lächelnd sah er in ihr perplexes Gesicht.

„Ja?" Sie schaute ihn überrascht an.

„Ich war vorhin etwas unhöflich. Ich hatte im Eifer des Gefechtes ganz vergessen, dir anzubieten, dass du zukünftig auch bei mir wohnen könntest."

Alle Beteiligten waren fassungslos über das schamlose Angebot des Grafen.

„Du willst, dass sie bei dir wohnt?", fragte Eden und ließ sein Handgelenk los.

„Du willst, dass ich bei dir wohne?", wiederholte Celes.

„Lazarus hat dich doch nun endlich wiedergesehen", sagte Nero. „Nun müsste er doch haben, was er wollte. Was du nun anstellst, müsste deine freie Entscheidung sein. Ob du jetzt allein in deiner Waldhütte versauerst, oder ob du mir kommst, macht doch kaum einen Unterschied."

Auch Lazarus schaltete sich endlich ein. „Das kann nicht dein Ernst sein."

„Doch, natürlich", sagte Nero lächelnd. „Schließlich habe ich ein großes Haus. Nicht so eindrucksvoll wie dein Leuchtturm, aber es stehen ihr genügend Zimmer zur Verfügung. Außerdem habe ich dank meines Kumpels auch dieses ... Internet. Vielleicht kann sie sich damit anfreunden."

Nur Celes war die Einzige, die angesicht Neros absurdem Vorschlag grinsen konnte. Eden, Lazarus und vor allem Zeki waren nicht besonders begeistert.

„An deiner Stelle würde ich verschwinden", zischte Lazarus.

„Mein Herr, lasst es mich übernehmen!", sagte Zeki. Er sprintete los und holte mit seiner Spezialwaffe aus. „Diese Respektlosigkeit wird nicht ungesühnt bleiben!"

Auch Nero grinste wie ein freches Kind. Er steckte die Hände in seine Manteltaschen und zuckte mit den Schultern. „War ja nur ein Vorschlag ..."

„RESPEKTLOSER BASTARD!", brüllte Zeki und schlug mit seinem Elektroschocker zu. Die pulsierende Spitze und Nero trennten kaum mehr als wenige Zentimeter, als der Graf wieder die Hände aus den Taschen nahm. Aus seinem Mantel fiel die letzte Blutkonserve, die ihm übrig geblieben war. Zeki war zu perplex, um das Geschehene zu verarbeiten, als auch schon der Kunststoffbeutel am Boden zerplatzte und eine rote Pfütze hinterließ. Die Pfütze hatte ihren Ursprung vor Neros Füßen, schlängelte sich jedoch wie von Geisterhand von diesem weg und bahnte sich ihren Pfad bis hin zu Lazarus. Der Engel wurde sogleich von verschiedenen Blutbahnen eingekreist, die ihn ansprangen und sich an seinen Anzug klebten.

Was auch immer Nero mit seinem „Herrn" vorhatte, Zeki würde ihn nicht gewähren lassen. Als er sah, dass dieser ungehobelte Graf seinen Meister nicht nur mit seinem frechen Mundwerk angriff, sondern nun auch seine hinterhältigen Zaubereien auspackte, musste Zeki alles aus seinen Reserven rausholen. Dies war die Gelegenheit für den tollpatschigen Zeki zu glänzen und endlich seinen Wert zu beweisen. Als er den Elektroschocker in Neros Richtung drückte, holte er das letzte bisschen Kraft aus seinem geschundenen Körper heraus. Gerade als er sich seines Sieges so sicher war, sah er plötzlich Neros Ellbogen auf ihn zukommen. Der elektrisierende Stab rauschte an Nero vorbei, während dieser in einer geschickten Drehbewegung ausweichen konnte und sogleich seinen Ellbogen in Zekis verformtes Gesicht schlug. Der Leuchtturmwärter taumelte benommen zurück und bekam in dieser Sekunde der Unachtsamkeit seinen geliebten Stab entwendet. Nero riss den Elektroschocker an sich, wirbelte umher und drückte die pulsierende Kugel in die Blutpfütze.

Die Kugel explodierte in einem Netz aus blauen Elektrizitätsfäden. Sie wanderten den blutigen Weg entlang und endeten an Lazarus' Körper. Die Blutschlangen, die ihn einst umwickelt haben, dienten als Leiter für die schmerzhafte Energie, die den Engel in die Knie zwingen sollte.

„MEIN HERR!", schrie Zeki. „Es tut mir soooo leid! VERZEIHT MIR DOCH! HIER MEINE FINGER! BITTE, SCHNEIDET MIR EINEN AB! ODER ZWEI!"

Der Engel wurde in einen elektrisierenden Kokon gehüllt. Während er am ganzen Leib zitterte, die übrigen Zuschauer in Angst und Schrecken versetzt wurden, nutzte Nero seine letzte Chance. Er ließ den Elektroschocker erst fallen, als diesem die Energie ausging und Lazarus aus dem elektrisierenden Gefängnis entließ. Danach nahm Nero die Beine in die Hand, griff noch im Sprint zu seinem Degen und zog diesen aus der Schwertscheide.

Der Engel konnte sich kaum von dem überraschenden Angriff erholen, als er Nero anstürmen sah. Eine einzige Schreckenssekunde blieb ihm, um auf den Angriff zu reagieren, sodass er seine mörderischen Lichtschlangen in Bewegung setzte. Doch dann sah er in Neros grauen Blick, der über die Jahrhunderte so viel Farbe verloren hatte. Dieses gequälte Geschöpf hatte nicht so viele trostlose Situationen überlebt, nur um kurz vor seinem Ziel aufzugeben.

Als Lazarus und ihn nur noch einen Meter trennte, holte er bereits mit seiner Mordwaffe aus und ging in eine spektakuläre Drehung über. Die Lichtschlangen zischten haarscharf an Nero vorbei, als dieser seine Klinge in den Engel bohrte. In einem Blutschwall bohrte sich die Degenspitze durch Lazarus' Magen.

„MEISTER!", schrie Zeki erschrocken.

Eden und Celes konnten das Gesehene kaum verarbeiten. Sollte diese Bluttat sie erfüllen können, wenn der Mensch, der ihnen ihre Leere bescherte, so grausam hingerichtet wurde? Der Graf hatte ungefragt die Entscheidung gefällt, den teuflischen Engel von dieser Welt zu verbannen.

Lazarus wollte auf die Knie gehen, als sein Körper entlang des Klingenverlaufs in Richtung des Griffs rutschte. Hatte er in den höchsten Kreisen der Wissenschaft verkehrt, nur um von diesem banalen Werkzeug auseinandergerissen zu werden? Fassungslos sah er seinem Peiniger in die Augen.

Lazarus spürte, wie die Klinge aus ihm herausgezogen wurde. Gepeinigt torkelte er zurück, wobei jeder Schritt von einer Spur aus Blut verziert wurde. Der Wahn trieb ihn in Richtung der gläsernen Wände, welche die Grenzen zwischen der obersten Etage und dem freien Fall markierte. Gerade als er in die Enge getrieben Schutz und Gleichgewicht an den Wänden suchte, spürte er die mechanische Hand des Grafen an seinem Hemdkragen.

„Da sind wohl die Pferde mit mir durchgegangen", sprach Nero.

Der Graf grinste, als er schnippisch Lazarus einen Stoß mit seinem linken Arm gab. Der gepeinigte Engel durchbrach das Glas und überschritt die magische Grenze zum Abgrund. Das graue Meer und die scharfen Klippen kamen immer näher.

Eden OdysseeWhere stories live. Discover now