Die Jagd (5)

19 3 0
                                    

Entgegen Fionas Vermutung wurde Nero bislang noch nicht die Ehre zuteil, Constanze in den Irrgarten zu begleiten. Da er an jenem Abend zum ersten Mal die Anlage betrat, fiel es ihm zunehmend schwer, sich in dem Labyrinth zu orientieren. An diesem finsteren Ort waren ihm nicht einmal seine übernatürlichen Fähigkeiten eine Hilfe. Er war umringt von zwei Meter hohen Heckenwänden, die ihn in einer rechteckigen Formation einengten. Jede Gasse ähnelte der nächsten, jede Hecke sah der nächsten absolut identisch, als ob sich am Vortag die Gärtner mit Fingernagelscheren drangemacht hätten, die Hecken auf dieselbe Höhe zu stutzen.

Wie alle anderen normalsterblichen Teilnehmer dieser irren Jagd, müsste Nero sich mehrere Male verlaufen, ehe er zufällig den richtigen Weg finden könnte. Seine Fähigkeiten halfen ihm zwar nicht bei der Orientierung, dennoch konnte er sich seinen Rücken zumindest vor bösen Überraschungen absichern: Bevor er erneut an einer Kreuzung abbog, versteckte er in den Hecken vorsichtshalber eine Blutkonserve. Sollten ihn Krylows Männer oder Mitglieder der Tyrannis-Einheit an einer Abzweigung überfallen und in eine Sackgasse drängen, könnte er die Konserve zünden und den Feind überraschen. Da er nur mit begrenzt vielen Blutbeuteln ausgestattet war, musste er, nachdem er einen Weg ausprobiert hatte, wieder zurückgehen und die Konserven erneut aufsammeln. Diese Strategie verlangsamte zwar sein Vorankommen, entpuppte sich aber als äußerst idiotensicher.

Sein Plan wurde nach einigen Sackgassen auch direkt auf Herz und Nieren geprüft. Nero stand gerade vor der nächsten Wand aus verzweigten Eibenhecken, wollte schon zurückgehen und seine Wegpunkte in Form von Blutkonserven aufsammeln, als er hinter sich hektische Schritte vernahm. Sofort drehte er sich zu der Kreuzung, die er bereits mit einer Konserve abgesichert hatte. Um die Ecke kam zuerst ein kreidebleicher Vincenz angeschossen. Die Angst stand ihm im Gesicht geschrieben. Keine zwei Schritte später stolperte er über seine eigenen Füße, landete in einem spektakulären, unfreiwilligen Hechtsprung auf dem Boden. Der Angstschweiß perlte von seiner Stirn hinab, seine Brille war verrutscht. Die Furcht war nicht unbegründet, denn der schwarze Löwe war ihm dicht auf den Fersen. Als Vincenz sich auf dem Boden festkrallte und wie erstarrt liegenblieb, visierte ihn Apu Bubu mit seiner mörderischen Waffe an.

Nach einer halbstündigen Verfolgungsjagd quer durch die Maurier-Villa hatte Vincenz keine Kraft mehr. Der Löwe war der Jagd ebenfalls überdrüssig und bereit, seine Beute zu erlegen. Als Apu Bubu den Abzug bestätigte, verschränkte Vincenz schützend seine Arme über seinem Gesicht und schloss die Augen. Es war eine Art Erlösung, dass die furchteinflößende Hetzjagd endlich ihr Ende fand. Als die Rakete mit einem lauten Zischgeräusch aus der Panzerfaust gefeuert wurde, schoss zeitgleich ein knallroter Blutschwall aus den Hecken. Die Rakete hatte das Abschussrohr kaum verlassen, als sich die flüssige Blutmasse vor der Rakete zu einer stacheligen Materie verdichtete. Die Blutstränge vereinten sich, wickelten sich umeinander und verhärteten sich zu einem Gestrüpp aus eisernen Dornen. Das Projektil verhakte sich in der Metallmasse und zündete innerhalb des Eisenmantels. Nach der ohrenbetäubenden Explosion fegte eine Feuerwalze durch die naheliegenden Hecken. Gierige Flammen zerfraßen die Mauern des Labyrinths. Das Geäst brach in sich zusammen und zerfiel zu Asche.

Ein einziger Flammenstrahl drohte Vincenz zu erreichen, doch versiegte wenige Zentimeter vor dem Glückspilz. Als Vincenz getrieben von der Hitze die Augen öffnete, sah er vor sich das erwartete Flammenmeer. Doch zu seiner Überraschung war er immer noch am Leben, obwohl der grausame schwarze Löwe höchstpersönlich das Mordwerkzeug bedient hatte. Es musste mehr als ein Wunder sein, mehr als er sich je erträumt hatte. Vincenz tastete sich an seinem ganzen Körper ab, um sicherzugehen, ob er wirklich nur mit einem blauen Auge davongekommen war. Gerade als er sein verloren geglaubtes Lächeln wiedergewann, verging es ihm im nächsten Augenblick schon wieder.

In dem Inferno sah er nun eine aufsteigende Silhouette, eine bedrohliche Gestalt, die sich aus den Trümmern aufrichtete. Sie kam näher, trat vor die Flammen und offenbarte ihr neues Antlitz. Apu Bubus Grinsen war nach wie vor unverfälscht, auch wenn seinen Körper einige weitere Brandnarben zierten. Die viel schrecklichere Offenbarung war sein linker Arm, den er sich selbst weggesprengt hatte. Dort, wo sein Ellbogen zum Unterarm übergehen sollte, verblieb nur eine verschmorte blutige Wunde. Trotz seiner Verletzung, dachte Apu Bubu keine einzige Sekunde an seine eigene Gesundheit, sondern strikt an seine Jagd. Nicht einmal der Tod vermag es, dieses Monster zu stoppen.

Apu Bubu schritt weiter auf seine Beute zu, trotz seiner Blessuren immer noch aufrecht stehend.

Das mörderische Grinsen trieb Vincenz zwar in den Wahnsinn, doch die kurz geglaubte Sicherheit hatte seinen Überlebenstrieb wiedererweckt. Der Attentäter streckte dem Monster seine blutige Gabel entgegen. Ein letztes Mal würde er noch kämpfen, auch wenn er mit dem schwarzen Löwen, der rechten Hand des Teufels, in den Ring steigen müsste.

Noch bevor sich der hungrige Löwe auf sein Opfer stürzen konnte, trat Vincenz heimlicher Retter auf das Schlachtfeld. Mutig und furchtlos stellte sich Nero dem Monster entgegen, schritt an Vincenz vorbei und bäumte sich schützend vor diesem auf. Der Graf erhob seine rechte Hand in Höhe von Apu Bubus finsteren Augen, ehe er sie langsam senkte, mit einer Gemächlichkeit und einer Kraft, dass es den Anschein hatte, er würde einen unsichtbaren Gegenstand herunterdrücken.

Plötzlich spürte Apu Bubu eine ungewohnte Kälte, obwohl er doch von wärmenden Flammen umgeben war. Die Blutung an seinem linken Stummel versiegte. Je tiefer Neros Hand sank, desto größer das unheimliche Gefühl in Apu Bubus Bauch und desto breiter das Grinsen in seinem Gesicht.

Auch Vincenz bemerkte das unnatürliche Phänomen. Zeitgleich zu Neros sinkender Hand, entstieg in Apu Bubus Hose eine fünfunddreißig Zentimeter lange Beule.

„Er hat ein Hörnchen", sagte Vincenz überrascht.

Die Beule in Apu Bubus Hose fand zeitgleich mit seinem dämonischen Grinsen ihren Höhepunkt. Parallel zu seiner Gesichtsfarbe verlor der Löwe auch das Bewusstsein. Mit offenen Augen und breitem Grinsen fiel er bewusstlos nach vorne und landete auf seiner ausgeprägten Beule.

Wieder konnte Vincenz sein Glück nicht fassen. Zuvor wurde er Zeuge eines Wunders, nun Zeuge reiner Magie. In seiner Auffassung wurde der zerstörerische schwarze Löwe mit der Macht der Liebe besiegt - zumindest könnte dies sein „Hörnchen" erklären. Sofort rannte er Nero entgegen und sprang ihm direkt in die Arme.

„DANKE!", schrie Vincenz. „Du konntest wirklich den Löwen bezwingen!"

„Schon in Ordnung", sagte Nero peinlich berührt und klopfte Vincenz auf den Rücken.

Vincenz ließ nach einer gefühlten Ewigkeit von Nero ab, streckte ihm daraufhin sofort die Hand entgegen. „Mein Name lautet Vincenz. Ich bin dir für ein Leben lang zu Dank verpflichtet! Du hast mein Leben gerettet."

„Nepomuk", sagte Nero knapp und schlug ein.

„Wie hast du das gemacht? Wie hast du den schwarzen Löwen besiegt? Was ist mit ihm passiert?"

Nero sah zu dem bewusstlosen Apu Bubu herüber, den er mittels seiner übernatürlichen Fähigkeiten ins Land der Träume beförderte. Nun musste er dies Vincenz glaubwürdig verkaufen, ohne dabei einen Verdacht zu erwecken. „Von seinem Kopf ist viel zu viel Blut in ein anderes Körperteil geflossen. Deswegen wurde er wohl ohnmächtig."

„Aber warum?", fragte Vincenz und sah Nero skeptisch an. „War er etwa in dich verliebt?"

„Gegen Armors Pfeile hilft wohl keine schusssichere Weste", erwiderte Nero. Er war doch überrascht, wie schnell er Vincenz' Neugier befriedigen konnte. Neben einem gewonnen Lächeln brachte die Rettungsaktion einen weiteren angenehmen Nebeneffekt. Die Explosion hatte mehrere Heckenwände in Mitleidenschaft gezogen und zu Asche verbrannt. Die Wände, die einst Sackgassen darstellen, waren nun durchbrochen.

Eden OdysseeWhere stories live. Discover now