Die Versteigerung (9)

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Beim begeisterten Dartspieler Diego und seiner verträumten Freundin Doreen wollte einfach keine Freude aufkommen. Wohin Diego auch ging, niemand, wirklich niemand, wusste seine Fähigkeit, einem Adeligen mit einem gezielten Wurf seines Dartpfeils das Sektglas aus der Hand zu schlagen, zu schätzen. Selbst als Doreen erzählte, ihr Schatz sei der Cousin des bekannten Grafen von Hohenheim, wollte sich kein Adeliger mit dem frisch verliebten Pärchen abgeben. Stattdessen bildeten die Reichen und Schönen einen engen Kreis um einen anderen Ehrengast: Der aus dem Orient angereiste Sheytan schaffte es, die Aufmerksamkeit des halben Ballsaals auf sich zu ziehen. Schon auf den ersten Blick war er seiner Kleiderwahl wegen der auffälligste Gast des Abends. Seine orientalische Kleidung und die dunkle Haut betonten seine mysteriöse Ausstrahlung, doch die weiteren Details seines Aussehens erzeugten ein widersprüchliches Bild. Die Augenbrauen gezupft, die Augenlider mit einem glitzernden Silberton geschminkt. Unter dem Schleier, abwärts seiner Augenpartie, schimmerte der schwarze Lippenstift auf seinen Lippen durch, und die zahllosen goldenen Armreife und schimmernden Ringe an seinen Armen und Händen klimperten bei jeder Bewegung. Seine Fingernägel blieben von der Verschönerung in Form eines Nagellacks nicht verschont. Von ihm ging ein fruchtig frischer Duft aus, mit einer Note frisch geschnittener Rosen, einschließlich eines warmen Vanillearomas – wohl ein Damenparfüm. Diese einzelnen Details, die im völligen Widerspruch zu dem Medium aus dem Orient standen, machten ihn für die Menge so faszinierend.

Das Medium, der Wüstenmagier, der geheimnisvolle Hexer. In der Öffentlichkeit trug Sheytan viele Beinamen, doch letztendlich konnte er mit jedem dieselbe Reaktion hervorrufen: Wenn er auf Veranstaltungen seine Fähigkeiten vorführte, erzeugte er jedes Mal Begeisterung und Verwunderung. Er prophezeite ihnen die Zukunft, sprach mit den Geistern ihrer Angehörigen, faszinierte sie durch Magiekunststückchen. Oftmals stand ein Schlaumeier in den Reihen der Zuschauer und erklärte ihnen die Tricks hinter Sheytans Vorstellung, doch die Mehrheit blieb stets auf der Seite des Mediums. Jedem Schlaumeier standen fünf begeisterte Fans entgegen, die Sheytans Fähigkeiten bezeugen konnten, und die berichteten, wie punktgenau seine Voraussagungen eintrafen.

An jenem Abend versuchte Diego der Schlaumeier zu sein. Versuchte.

Mit geschlossenen Augen bewegte sich Sheytan innerhalb des Stehkreises. Bei jedem Schritt ließ er seine Beine überkreuzen - wie eine Krabbe, die sich nur seitwärts fortbewegen konnte. Seine mit Goldschmuck verzierten Hände hielt er wie ein Dirigent, der ein fiktives Orchester dirigierte. Plötzlich blieb er an einer Stelle stehen und spulte sein Programm ab.

„Ich spüre eine starke Präsenz in diesem Raum ... Eine Stimme der Anderswelt, die mir die Zukunft prophezeien möchte. Die Stimme schreit, sie kreischt, doch ich kann sie nicht eindeutig verstehen. Die Stimme warnt mich vor einer Tragödie, doch ihre Worte dringen nicht ganz durch. Die Schwingungen der Anderswelt werden durch Negativität verzerrt."

Die esoterisch begeisterten Adelsfrauen schielten erbost zu ihren skeptischen Männern, die es wagten, mit ihren Zweifeln die Schwingungen der Anderswelt zu stören.

Wieder bewegte sich Sheytan seitwärts durch den Kreis. „Es scheint, als ob die Stimme der Anderswelt nicht aufgibt. Sie will mich kontaktieren, schreit sich die Seele aus dem Leib, aber scheitert aufgrund der Widerstände. Es muss einen Punkt in diesem Raum geben, einen Dimensionsspalt, durch den die Stimme durchdringen kann."

Die Adelsfrauen ließen von ihren Männern ab, schauten sich stattdessen im Raum nach besagtem Dimensionsspalt um.

„Der Dimensionsspalt ist nicht lokal beschränkt", sagte Sheytan. „Wann immer eine Seele der Anderswelt seinen Seelenpartner, ihr Gegenstück in unserer Dimension, in Gefahr sieht, versucht sie ihn zu warnen. Diese verzweifelte Seele schreit so laut, dass ein Dimensionsspalt entsteht – im Herz ihres Seelenpartners. Für verschlossene Herzen sind diese Stimmen nicht vernehmbar, nur für offene Herzen und Geister, die sich der Anderswelt geöffnet haben ... Und wie es scheint, kann diese Seele gegen die Negativität ankämpfen. Je aufmerksamer ihr werdet, und je uneingeschränkter ihr eure Herzen öffnet, desto stärker vernehme ich ihre Schreie. Der Dimensionsspalt muss sich ganz in der Nähe befinden!"

Diego verfolgte Sheytans Show mit Skepsis. „Diesem geistig verwirrten Menschen schenken sie mehr Gehör als einem Talent wie mir?"

„Lass dich nicht unterkriegen, Schatz", tröstete Doreen.

„Er sagt, er empfängt Schwingungen", sagte Diego und zückte einen Dartpfeil. „Vielleicht sollte ich ihm eine Antenne verpassen."

Kaum hatte er Sheytans Kopf anvisiert, warf Diego den Pfeil in Richtung des silbernen Turbans. In einer kerzengeraden Flugbahn schoss die Stahlspitze auf den Magier zu. Da es sich um Diegos preisgekrönten Meisterwurf handelte, war er umso überraschter, als die Flugbahn des Dartpfeils zwischen Sheytans Zeigefinger und Daumen bereits endete. Die Augen des Mediums waren dabei noch immer geschlossen - Diegos und Doreens Augen hingegen aufgerissener denn je, erfüllt von Bestürzung und Furcht.

Mit dem Dartpfeil zwischen seinen Fingern schritt Sheytan im Krabbenschritt auf Diego zu. „Ich habe den Dimensionsspalt rechtzeitig gefunden. Die Stimme der verzweifelten Seele warnt mich vor einer bevorstehenden Finsternis. Ihr Seelenpartner ist in blaue Flammen gehüllt, steht inmitten der flammenden Katastrophe. Speerspitzen schweben in der Luft, umzingeln ihren Seelenpartner. Und ihr Seelenpartner ist nicht allein in diesem blauen Inferno. Eine rothaarige Schönheit sitzt an seiner Seite und hält die Stücke seines zerbrochenen schwarzen Herzens in seinen Händen." Punktgenau blieb Sheytan vor Diego stehen und öffnete seine geschminkten Augen. Er blickte den von Furcht erfüllten jungen Mann an und wartete auf dessen Reaktion.

Auch Doreen drückte ihre Bestürzung über Sheytans rätselhafte Prophezeiung anfangs mittels Schweigen aus. Erst als ihr Sheytans Erwähnung der rothaarigen Schönheit einfiel, verdrängte ihre Eifersucht jegliche Sprachlosigkeit. „Schatz, wer ist die rothaarige Schönheit!?"

Diego sah das Medium mit großen Augen an. „Bedeutet das, dass sich mein Schatz die Haare rot färben wird?"

Sheytans schwarz gefärbte Lippen formten ein höhnisches Lächeln. Der Magier erhob seine Hand und drückte sie sanft gegen Diegos Wange. Er erschrak aufgrund der ungewohnt weichen Männerhand, die sich gegen seine Wange schmiegte. An diesem Abend hinterließ Sheytan sein Publikum nicht nur wie gewohnt in absoluter Ratlosigkeit - diesmal schien er auch Gefallen daran gefunden zu haben, für Angst und Schrecken zu sorgen.

„Herzchen", sagte Sheytan gut gelaunt. „Das bedeutet, dass dein Schatz sterben wird."

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