Ist das mein Blut, Bruder? (2)

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In der Luft lag der Nebel des Krieges. Während des Waffenstillstandes sammelten sich die unversehrten Soldaten in den weißen Mannschaftszelten und empfingen eine Stärkung in Form warmer Suppe. Diejenigen, die zwar lebendig aber verletzt von dem Schlachtfeld traten, wurden von Nero und den übrigen Sanitätern in Empfang genommen. Aufgrund des Platzmangels wurden die Liegen für die Verletzten unter dem freien Himmel aufgestellt. Reihen von Feldbetten standen für die Soldaten bereit, die sich krümmend und schreiend auf den unbequemen Liegen räkelten. Hektische Männer in grauen Uniformen stürmten zwischen den Liegen vorbei, trabende Pferde transportierten auf ihren Rücken Versorgungsgegenstände.

Zwischen dem Chaos sprang Nero von Feldbett zu Feldbett und verarztete die Verletzten in Rekordzeit. Auch wenn er und die anderen Sanitäter ihr Bestes gaben, so offenbarte ein Blick in die Ferne unzählige Reihen von Feldbetten, auf denen die noch nicht versorgten Patienten auf ein Wunder warteten.

Aus dem Augenwinkel erkannte Nero plötzlich ein Paar hellblauer Augen, die ihn freundlich ansahen. Zwischen all dem Chaos näherte sich ihm die Ruhe in Person. Jemand der selbst in jenen düsteren Zeiten immer ein Lächeln auf den Lippen trug.

„Kamerad, seit Stunden kümmerst du dich um die Verletzten. Du solltest eine Pause machen. Du hast sogar die Essensausgabe verpasst. Sie haben gerade den letzten Rest Suppe aus dem Kessel gekratzt."

Es war eine Zeit, in der Nero ihn nur unter dem Namen Alfons kannte, eine Zeit, in der sie noch die besten Freunde waren.

„Danke, aber ist schon gut", erwiderte Nero und wies auf seine blutigen Hände hin. „Irgendwie ist mir der Hunger vergangen, alter Freund." Als er sich in Aarons Richtung drehte, erkannte er auch den Teller Suppe in Aarons Händen.

„Die Portion konnte ich noch auftreiben", sagte Aaron und griff in die Seitentasche seiner Uniform. Er nahm ein eingewickeltes Stück Brot hervor. „Hier, du musst etwas essen."

Dankbar nahm Nero die Mahlzeit unter einem peinlich berührten Lächeln entgegen. „Na, ich glaube kaum, dass ich jetzt noch ablehnen kann."

„Lass es dir schmecken", sagte Aaron lächelnd. Er wollte gerade wieder seiner Wege gehen, als ihn Nero aufhielt.

„Was machst du überhaupt noch hier?", fragte Nero. „Willst du nicht endlich nach Hause gehen?"

„Es ist immer noch Krieg. Ich werde keinen Kameraden im Stich lassen, so gerne ich auch nach Hause zurückkehren möchte."

„Das Kriegsende wird in jenem Moment verhandelt. Der Waffenstillstand wird wohl von Dauer sein. Pack dein Zeug zusammen und dann kehre zu deiner Familie zurück."

Aaron lächelte immer noch. „Um dann meine zweite Familie im Stich zu lassen? Noch ist der Krieg nicht vorbei."

„Ich kann dich nicht verstehen, Alfons", sagte Nero kopfschüttelnd. „Du hast eine wunderschöne Frau und einen gesunden Jungen. An deiner Stelle würde mich hier nichts mehr halten. Nichts wünschte ich mir lieber als meine eigene, kleine Familie. Sollte ich sie jemals finden, würde ich meine Familie in keiner Sekunde verlassen wollen."

Aaron sah seinen Freund mitleidig an. „Das Einzige, was meine Sehnsucht tröstet, ist die Gewissheit, dass meiner Familie und mir noch eine gefühlte Ewigkeit bleibt. Wie ich mich auf die Wochen freue, in denen ich meine Sehnsucht endlich stillen kann." Er legte seine Hand auf Neros Schulter und lächelte. Die blauen Augen strahlten ihn an. „Ich hoffe, du wirst mich bald verstehen können. Bald wirst du deinem Glück begegnen, das wünsche ich dir von ganzem Herzen. Sobald du aus dieser Hölle entkommen bist, wirst du deine Familie finden."

Er zwinkerte Nero noch einmal zu, ehe er ihm den Rücken kehrte.

Nachdenklich sah der Graf seinem Kameraden hinterher, den er doch so beneidete. Zu dieser Zeit hätte er alles getan, um so unbeschwert leben zu können wie er. Damals ahnte er noch nicht, dass auch Aaron künftig mit einer unerfüllten Unsterblichkeit leben musste, eine Einsamkeit, die ihn bis an sein Lebensende begleiten sollte.

Aaron erreichte gerade das Mannschaftszelt, als ein schrilles Pfeifen ertönte. Es war das letzte Mal, dass Nero seinen warmherzigen Kameraden Alfons erblickte.

Eine schwarze Kugel schlug wenige Meter neben Aaron ein, ehe sie in einem Flammenmeer explodierte. Aus dem Boden schoss eine Feuerwalze und riss alles Umliegende in das tödliche Inferno hinein. Eine Fontäne aus Erdbrocken, Blut und Funken erschütterte die Umgebung. Die Einzelteile des Zeltes wurden durch die Luft geschleudert. Bevor Nero reagieren konnte, sah er auch schon die nächste schwarze Kugel, die inmitten der Feldbetten einschlug. Nach einem ohrenbetäubenden Donnerschlag raste Nero eine Welle aus Feuer und Erde entgegen. Reflexartig ließ er den Teller fallen und verschränkte seine Arme vor seinem Gesicht. Das Blut seiner gefallenen Kameraden schoss ihm entgegen, ionisierte sich wenige Meter vor ihm. Eine schützende Eisenmauer baute sich vor ihm auf. Die Flammen und Splitter prallten gegen die Eisenwand, während sich um die Blockade herum eine Schneise der Verwüstung bildete. Vor ihm erblickte Nero nur die graue, verbeulte Wand, als zeitgleich neben ihm weggesprengte Körperteile seiner Kameraden vorbeiflogen. Im selben Moment ertönten mehrere Donnerschläge, mehrere Pfeifgeräusche, welche die Zerstörung ihres Lagers einläuteten. Wohin er auch blickte, überall sah er die einschlagenden Kanonenkugeln. Sofort lief er in Richtung des zerstörten Mannschaftszeltes.

„ALFONS!", schrie er gegen die schallenden Donnerschläge an.

Um ihn herum schlugen die Kugeln ein. Das halbe Lager zerfiel in einer dunklen Aschenwolke. Kleine Funken schwirrten zwischen den dunklen Wolken wie Glühwürmchen umher.

Als Nero das zerstörte Mannschaftszelt erreichte, stand dort kein Stein mehr auf dem anderen. Unter den Trümmern lagen seine begrabenen Kameraden zwischen Blut und Flammen. In der Verwüstung erkannte er keinen einzigen Überlebenden.

„Alfons?"

Neros verzweifelte Suche blieb ohne Erfolg. Die Aschewolken drängten sich in sein Sichtfeld, der in der Luft liegende Schwefelgeruch raubte ihm den Atem. Die Flammenzungen und die einschlagenden Kanonenkugeln engten ihn weiter ein.

Auch wenn die Zerstörung jegliche Hinweise auf Alfons Verbleib zunichtemachte, überließ sie Nero ein letztes Erinnerungsstück. Auf dem Boden lag Alfons geliebter Degen, der innerhalb der schwarzen Schwertscheide unversehrt blieb. Nero packte den Degen an dem goldenen Griff. Mit zittrigen Händen umarmte er das letzte Andenken an seinen Kameraden.

Eden OdysseeWhere stories live. Discover now