Nullpunkt (4)

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Statt einem fröhlichen Lächeln musste Nero fortan auf schwarzglänzende Granitplatten schauen, wenn er mit Fiona reden wollte. Statt ihrer bezaubernd tollpatschigen Art erwartete ihn auf der Gegenseite absolute Stille. Ihre Ruhestätte sah aus wie ein mit schneeweißen Steinen gefülltes Bett. An der Stelle des Kissens überdeckte die Granitplatte das Grab. Um Fionas kindlichem, hoffnungsvollem Naturell gerecht zu werden, war auf der Granitplatte eine kleine Engelsfigur aus Marmor angebracht worden. Die Figur war kaum höher als einen Meter und wirkte im Gegensatz zu den himmlischen Gestalten, die sie während ihrer Abenteuer begegnete, harmlos und umsorgend. Wie ein Schutzengel sah der Engel mit mildem Gesichtsausdruck auf ihr Grab herab. Auf dem glänzenden Sockel war ein letztes Geschenk an sie eingraviert worden: „Fiona von Hohenheim".

„Sie hatte sich diesen Namen immer gewünscht", sagte Pedro mit leiser Stimme.

„Um diesen Namen hatte sie hart gekämpft", sagte Nero. „Er soll ihr gegönnt sein."

Die beiden Männer schützten sich in edlen Mänteln vor der bedrückenden Kälte. An jenem Mittag war das Wetter trostlos. Schwarze Lederhandschuhe zierten Neros mechanische Hand der Armprothese. Von außen sah man ihm keinerlei Makel der überlebten Katastrophen mehr an, obwohl er innerlich zerstörter war denn je.

„Ich wünschte, ich wäre bei ihrer Beerdigung dabei gewesen", sagte Nero. „Es gibt keine Entschuldigung dafür."

„Sei nicht so hart mit dir selbst. Ich denke, Fiona wäre ebenso froh gewesen, dass wir für dich kein Grab ausheben mussten." Pedro klopfte auf Neros Schulter. „Du hast nichts verpasst. Beim Leichenschmaus hatte sich Constanze mächtig betrunken und der Dorfpolizist Helmut wieder mal von seinen Heldengeschichten geprahlt."

„Von allen beiden?" Nero musste grinsen. „Waren wenigstens viele Leute anwesend?"

„Es war eine Zeremonie im kleinen Kreise, wobei auch viele Personen erschienen sind, mit denen niemand gerechnet hätte. Unter anderem Prinz Alistair, der hatte sich aber mucksmäuschenstill verhalten. Ein paar Reporter der Regenbogenpresse waren auch anwesend, wobei sie sich eher für die Gründe deines Fernbleibens interessierten. Tu dir selbst den Gefallen und kauf dir in den nächsten keine Boulevardzeitschrift."

„So schlimm?"

Pedro zitierte die besten Schlagzeilen, darunter ‚tödliche Krankheit! Hat es den Grafen erwischt?', oder ‚er tut es schon wieder! Neues Liebesglück während ihrer Beerdigung?'"

„Also alles beim Alten", sagte Nero schmunzelnd. Der auflockernde Moment war sogleich wieder vergessen, als beide zum Grab blickten und ihnen der Ernst der Lage bewusst wurde.

„Weißt du noch damals?", eröffnete Pedro. „Wir hatten dich damals erpressen müssen, damit wir bei dir einziehen konnten."

„Wie könnte ich das vergessen?"

„Du wolltest uns damals nicht ... aus Angst, wieder weitere Freunde zu überleben", sagte Pedro. „Weißt du, damals hätte ich es nie für möglich gehalten, innerhalb von einer so kurzen Zeit von einem Menschen Abschied zu nehmen. Hätte ich gewusst, wie das alles verläuft, hätte ich anders gehandelt. Vermutlich wäre es das Beste gewesen, wenn wir niemals bei dir eingezogen wären."

Nero sah seinen Begleiter überrascht an. „Was redest du für einen Unsinn?"

„Es ist meine Schuld", sagte Pedro. Die nächsten Tränen perlten aus seinen Augenwinkel und verliefen entlang seiner Hakennase. Er zitterte bei jedem Wort. „Ich habe alles ins Rollen gebracht. Wäre ich nicht gewesen, wäre Fiona nie bei dir eingezogen. Sie hätte dich nie dazu überredet, die Wachter AG zu besuchen. Sie würde heute noch leben!"

Der Graf kam einen Schritt näher. „Und wir hätten sie niemals so zu lieben gelernt. Wir würden sie heute nicht vermissen können. Wir hätten uns niemals an ihre liebenswürdige Art gewöhnen können." Er legte seinen rechten Arm um Pedros kleinen Körper. „Weißt du, was nach Edens Tod mein größter Wunsch war?" Er begann zu lächeln, wobei auch seine Augen glasig wurden. „Ich hatte mir gewünscht, ich könnte euch beiden Irren endlich rausschmeißen. Nicht, weil ich euch nicht mochte, sondern ich hatte mir gewünscht, Fiona zum Traualter zu begleiten. Ich hatte mir gewünscht, sie würde endlich jemanden finden, der sie so lieben könnte, wie sie es verdiente. Ich hatte mir gewünscht, dass irgendwo auf der Welt ein anständiges Mädchen auf dich wartet, das sich heimlich deinem Schminkkoffer entledigt. Weißt du eigentlich, wie froh ich bin, dass ich euch kennenlernen durfte? Ihr habt mich kurzzeitig meine Einsamkeit vergessen lassen. Nichts hätte mein Leben bedeutungsloser gemacht, als wenn ich euch beide niemals kennengelernt hätte."

Pedro heulte mittlerweile Rotz und Wasser. „Wie soll es ohne sie weitergehen?", fragte er zitternd. „Wir können doch nicht so tun, als wäre nie etwas gewesen!"

Nero lockerte seinen Griff um seinen aufgelösten Begleiter. Er packte ihn an seinen Wangen und sah ihm tief in die Augen. „Egal, was du machst ...", eröffnete er. „Egal was. Ob du weiterhin die alte Gruselmumie bügelst oder weiterhin im Vampiroutfit über Friedhöfe schleichst ..." Der Graf streckte seinen mechanischen Arm aus und deutete auf Fionas Grab. „So will ich dich niemals sehen! Nicht einmal in Hundertmillionen Jahren will ich vor deinem Grab stehen. Falls du dich doch erdreistest, vor mir zu sterben, dann schwöre ich dir bei allem, was mir heilig ist, dass auf deinem Grabstein keine netten Zitate eingraviert werden. Ich werde die gemeinsten und peinlichsten Sprüche einmeißeln lassen, um dich in alle Ewigkeiten zu blamieren!"

Pedro wollte sein verheultes Gesicht wegdrehen, wurde jedoch gleich von sanften Ohrfeigen von Neros Lederhandschuh in die Ausgangsstellung gebracht. „Verstehst du das?", fragte der Graf mit erhobener Stimme. „Wenn du jemals hier liegst, dann wirst du in einem großen Grab liegen. Mit deiner Frau, deinem Mann oder was-auch-immer."

„Arschloch ...", zischte Pedro unter einem traurigen Lächeln. Die Tränen flossen ihm in Strömen.

„Du musst weitermachen", sagte Nero entschlossen und gab seinem Gegenüber weitere sanfte Klopfer auf die Wange. „Versprich mir, dass du niemals zu der Sorte Mensch gehören wirst, die wenn es sein muss, siebenhundert Jahre in Trauer verschwenden wird. Versprich es mir!"

„Nero, ich ..." Pedro entglitt den sanften Schlägen nach vorne und drückte sein verheultes Gesicht auf Neros Brust. „Ich kann nicht."

„Du kannst!", schrie er. „Noch heute wirst du wieder rübergehen und deine Mumie beglücken. Du wirst dich ab heute nur noch mit Dingen beschäftigen, die du liebst. Kein einziges Mal wirst du mehr zurückblicken." Er legte seine Hand auf Pedros wackelnden Hinterkopf. „Sie hätte es so gewollt. Bestimmt schaut sie uns zu, glaubst du nicht? Versuch in jedem Moment zu lächeln, nur um sie glücklich zu machen."

„Ich kann nicht", wiederholte Pedro, woraufhin er wieder einen leichter Klaps auf den Hinterkopf erntete.

„Tu es für sie", sagte Nero entschlossen. „Mir fällt es ebenfalls nicht leicht, aber ihr sei zumindest ihr Glück im Himmel gegönnt." Langsam stellten sich Pedros Zuckungen ein. Sein blasses Gesicht kratzte über Neros Mantel, als er seine Gesichtsmuskeln zu einem Lächeln in Gang setzte. Zufrieden entließ der Graf ihn aus der festen Umarmung. „Jetzt geh raus und mach sie stolz."

Immer noch verheult, aber zumindest mit einem halbwegs ehrlichen Lächeln im Gesicht, ging Pedro den ersten Schritt. Dann blieb er plötzlich stehen. „Das hätte ich fast vergessen", sagte er und griff in seine Mantelinnentasche. „Sie hatte mich gebeten, es dir zu geben."

Mit großen Augen nahm der Graf den Brief entgegen, auf dessen Briefkuvert in Schnörkelschrift „Für Nero" geschrieben stand.

„Ist er von Fiona?", fragte der Graf überrascht. „Wann hat sie ihn geschrieben?"

„Circa eine Woche vor eurer Abreise. Sie hatte sich all die Zeit nicht getraut, ihn dir zu überreichen."

„Danke", sagte Nero lächelnd.

„Wer weiß, was sich darin befindet." Pedro zuckte mit den Schultern. „Vermutlich wieder eines ihrer selbstgemalten Bilder."

„Ich kann es kaum erwarten." Voller Vorfreude betrachtete Nero den Brief in seinen Händen.

Eden OdysseeWhere stories live. Discover now