Das Lieben nach dem Tod (1)

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Ob Pedro seine Ratschläge befolgen würde, wusste er nicht. Er konnte sich nur vorstellen, unter welchen Gewissensbissen er leiden musste, wenn er gerade in der Trauerzeit versuchte, Spaß zu empfinden. Selbst nachdem Wochen, Monate oder gar Jahre verstrichen waren, so würde Pedro stets ein unwohles Gefühl verspüren, sollte er gerade bei den Freizeitbeschäftigungen Freude empfinden, bei denen ihm immer Fiona zur Seite gestanden hatte. Die Witze über Neros Eigenarten, die gemeinsamen Kosmetikversuche oder ihre peinlichen Auftritte bei hochadligen Veranstaltungen - all dies könne er zukünftig nicht mehr genießen, vor allem nicht mit einer anderen Person. Im ersten Moment würde er irrtümlich glauben, er hätte sie versucht zu ersetzen, während ihn dann die Erkenntnis übermannte, dass sie unersetzlich war.

Nero kannte das Gefühl nur zu gut. Gerade als er sich vorgenommen hatte, sein Leben nicht mehr in Trauer zu verbringen, traf ihn mit Fionas Tod der nächste Schicksalsschlag. Er hätte nichts lieber getan, als seinem eigenen Ratschlag zu folgen und seine Nachmittage mit seinen Hobbys totzuschlagen, doch da war nichts. Während er an jenem Tag mit dem eisernen Knüppel auf Kain einschlug, hatte er den Entschluss gefasst, nicht nur sich selbst Gutes zu tun, sondern auch Fiona. Er wollte wieder öfter mit ihr verreisen und bei Gelegenheit sogar Pedro mitschleppen, wenn dieser nicht seiner heimlichen Passion zu Constanze nachging. Im Trio hätten sie sich auf Geburtstagen befreundeter Adelsfamilien wie die letzten Menschen benommen, nur um wieder einen hetzerischen Bericht über sie in den Boulevardzeitungen lesen zu können. Zusammen hätten sie auf Neros Couch gesessen und die Schilderungen über ihre Eskalationen lautlachend vorgelesen. Doch an jenem Mittag saß Nero wieder Mal nur alleine auf seinem Sessel.

Er hatte sich gerade erst an seine neue Armprothese gewöhnt. Im Wohnzimmer stand immer noch das geöffnete Paket, das ihm im Namen der Wachter AG gesendet wurde. Beigelegt war eine von Walburga unterschriebene „Gute Besserung"-Karte. Er fragte sich, wie viele von dem freundlichen Personal noch lebte, das ihn nach seiner Verletzung so behutsam gepflegt hatte. Vermutlich niemand, der Nihilataks Identität bestätigen konnte, bis auf Walburga, die offiziell von nichts wissen wollte. Sie musste auch auf gut Glück dieses Dankeschön-Geschenk in Auftrag gegeben haben, denn zum Zeitpunkt des Versands wusste niemand, ob Nero überhaupt noch lebte, nicht einmal er selbst. Trotz seiner schlechten Erfahrungen in der Zentrale, nahm er die Prothese dankend an. Diese Konstruktion erinnerte an einen metallischen Skelettarm, weswegen er vorerst nur langärmelige Kleidung und Handschuhe trug. Es handelte sich bloß um einen Prototypen, mit dem Nero seine ersten Erfahrungen machen sollte, bis ihm die finale, lebensechte Prothese angefertigt wurde - natürlich alles auf Kosten der Wachter AG. Es hatte mehrere Termine bei einem Spezialisten benötigt, der jedes mal die Schnittstelle zwischen seinem Nervensystem und der Prothese adjustierte. Mittlerweile reagierte sie bis auf einige Verzögerungen im Millisekunden-Bereich exakt nach seinen Wünschen. Irgendwann würde er hoffentlich den Unterschied nicht mehr bemerken.

Fast drei Monate hatte Nero seit seinem bitterlichen Verlust bereits verschwendet. Bis auf seine Prothese war in seinem Leben nichts passiert, das ihm nur irgendeine Verbesserung eingebracht hätte. Auf seinem Tisch stapelten sich dutzende Briefe der Wachter AG und der örtlichen Polizei, von denen er keinen einzigen geöffnet hatte. Er ahnte, dass sie ihn nur wegen Nihilatak ausquetschen wollten. Er würde ihnen nichts sagen, nicht um Kains Ruf zu schützen, sondern weil er die schrecklichen Bilder aus seinem Gedächtnis streichen wollte. Stattdessen würde er behaupten, er verfüge aufgrund des Sturzes und dem harten Aufprall auf dem Meeresspiegel über keinerlei Erinnerungen mehr an jenen Vorfall. Irgendwann würden sie ihn schon in Ruhe lassen und die Akte Nihilatak schließen. Irgendwann würden auch seine Erinnerungen an den schrecklichen Lazarus verblassen. Irgendwann würde er auch damit seinen Frieden schließen können, doch bis dahin wollte er so wenig über die Worte des Engels nachdenken wie möglich. Dennoch spukten sie in seinem Geist herum – wie ein lästiges Jucken, das bei jedem Kratzen schlimmer wurde. Er sollte eine Art Doppelgänger dieses Teufels sein? Hätte er in irgendeiner Dimension über die Skrupellosigkeit verfügt, Fiona sterben zu lassen? Der Engel musste lügen. Und Edens Doppelgängerin? Hatte er nicht bereits die ganze Welt nach seiner Eden abgesucht? Wäre ihm nicht sofort ein Wesen aufgefallen, das ihrer himmlischen Erscheinung nur ansatzweise ähnlich kam? Er wollte nicht mehr darüber nachdenken.

In seiner metallischen Hand hielt er nun den Brief von Fiona, den er seit Erhalt nicht angerührt hatte. Er fürchtete sich vor den Wunden, die Fionas Worte aufreißen könnten. Was auch immer sie ihm hinterlassen habe, es würde ihm wehtun, sei es auch nur eines ihrer selbstgemalten Bilder. So lange der Brief ungeöffnet war, blieb ihm eine frische Erinnerung an sie, die er sich für schwere Tage aufsparen wollte. Danach käme nichts mehr von ihr - kein einziges Wort, kein einziges Lachen. Er hätte nicht leichtsinnig mit ihrer letzten Nachricht umgehen können.

Es war einer dieser Tage, in dem ihn die Trostlosigkeit einnahm. Pedro war nicht zu Hause und auch sonst gab es nichts, was ihn aufmuntern konnte. Wieder einmal waren die Schneeflocken ausgeblieben, während sich die weißen Briefumschläge auf dem Küchentisch stapelten. Wenn er die Leere in ihm kurzzeitig stopfen konnte, dann mit Trauer.

Er musste den Brief einfach öffnen. Wenn sie ihm mehrere Zeilen gewidmet hatte, so würde er an jedem Tag nur eine lesen. Wäre es sogar ein ganzes Blatt, so könnte er an jedem Tag einen Absatz lesen. Er würde sich Fionas Nachlass so lange konservieren, bis ihn die Sehnsucht wieder zu einem weiteren Stück ihrer Liebe trieb.

Als er voller Vorfreude den Brief geöffnet hatte und in den Kuvert blickte, wurden seine Erwartungen übertroffen. Drei Din A4 Blätter konnte er auf die schnelle erkennen. Sofort griff er nach einem und musste grinsen. Es war wirklich ein selbstgemaltes Bild beigelegt, das für Fiona typisch, wie das Kunstwerk einer Erstklässlerin aussah. Das gesamte „Gemälde" war mittels Wasserfarben gemalt worden, grüne Wiesen, hellblauer Himmel und eine lachende gelbe Sonne mit Gesicht. Sie hatte immer behauptet, bei ihren Kunstwerken würde sie niemals ihre wahren Fähigkeiten abrufen, sondern nur des Scherzes wegen zu diesen kindlichen Abbildungen greifen. Geglaubt hatte ihr das niemand, aber zumindest konnte eines ihrer abstrakten Bilder Nero oder auch Pedro immer zum Schmunzeln bringen.

Mitten im Bild waren zwei runde Farbkleckse abgebildet, an denen jeweils eine „S"-Kurve sowie oberhalb zwei Dreiecke angehangen waren. Das war Fionas Art, Katzen zu zeichnen. Eine der Farbkleckse war schwarz und besaß mittels farbigen Punkten angedeutete grüne Augen. Die andere Katze war dagegen weiß und deren Pupillen grau ausgemalt. Hätte er eine Wette abschließen müssen, dann vermutete er, dass Fiona versuchte, sie und ihn als Katzen darzustellen. Das Kunstwerk musste wohl in kurzer Zeit entstanden sein, da sie sonst ihrer Katzenversion ein Kleidchen oder zumindest einen Sonnenhut gezeichnet hätte. Dennoch brachte das Bild einen Teil der Wärme zurück, die er in ihrer Nähe immer verspürt hatte.

Jetzt konnte er noch nicht aufhören. Die zwei beidseitig beschriebenen Blätter, die noch auf ihn warteten, konnte er nicht unberührt lassen. Auch wenn er nicht alles an einem Tag lesen wollte, so war ihm doch ein kleiner Absatz gegönnt, der ihm jenen trüben Tag versüßen konnte.

So wie die Aufschrift auf dem Kuvert war der Brief feinsäuberlich in Fionas Schnörkelschrift geschrieben. Die Buchstaben waren äußerst klein und leicht nach links geneigt.

„Hey, Nero!

Das sind wir beide als Katzen. :-) Huiiiiiii. Hast du hoffentlich direkt erkannt, oder?

Sag, wie geht es dir? Ich will dich das oft fragen, aber wenn wir uns sehen, traue ich mich nie so wirklich, weil ich dich nicht zu einem falschen Lächeln zwingen möchte. Auch wenn du verschlossen bist, sehe ich deinen Augen an, dass es dir nicht gut geht. Und mir geht es auch nicht gut, wenn es dir nicht gut geht.

Jetzt könnte ich einfach sagen, dass du einfach gut drauf sein sollst - von heute auf morgen! Aber das geht ja nicht ... leider. Habe ich auch schon oft versucht, aber wenn mich etwas bedrückt, dann kann ich nicht einfach lachen und so tun, als würde es mir gut gehen. Eigentlich möchte ich dann nur in Ruhe gelassen werden, aber ich will dich nicht in Ruhe lassen. Ich würde dich am liebsten den ganzen Tag nerven, soooo lange, bis du wieder lachst. Weißt du warum?

Weil ich dich mag."

Nero las den ersten Absatz so oft, bis ihm das Schmunzeln verging. Seine zitternden Mundwinkel klappten nach unten.

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