Kontakt (7)

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In der neu eröffneten Stadt der Engel wurden die sorgfältig selektierten Erstbesucher durch das Tunnelsystem geführt. Allen voran hiesige Größen der Politik und Industrie, die ihren Frauen und Kindern eine spannende Attraktion bieten wollten. Die Führung verlief allerdings ohne großartige Höhepunkte, da das Tunnelsystem nicht für derart große Menschengruppen ausgelegt war. Mit den Reiseführern und den schaulustigen Besucher drängelten sich über fünfzig Menschen durch die engen Gänge. Demnach hielt sich die Begeisterung unter den Besuchern auch in Grenzen. Zwar fanden sie das Tunnelsystem faszinierend, allerdings verpuffte die düstere und geheimnisvolle Atmosphäre bei dem schallenden Geschnatter der redefreudigen Besucher.

Die beunruhigten Reiseführer bemerkten bereits die genervten Beschwerden im Hintergrund, weswegen sie die Tunnelexpedition vorzeitig abbrachen. Sie führten die anspruchsvolle Menge hinein in das Zentrum der unterirdischen Katakomben; die überflutete Kultstätte, wo Nero und Aaron nach Jahrhunderten wieder zusammentrafen. Die antike Architektur konnte auch keine Jubelstürme entfachen, dazu waren die Beschwerden über die nassen Füße aufgrund des überfluteten Bodens viel zu groß. Zumindest hielt die aufgebrachte Menge für einen Moment ein, als sie das riesige Loch in der Decke bemerkten.

Die blauweißen Strahlen des Mondlichts drangen durch das Loch in die Halle hinein. Sie hatte den besten Ausblick auf den leuchtenden Vollmond, der von dem dunkelvioletten Himmelszelt umrandet wurde. Das schöne Lichtspiel hatte sie für einige Sekunden beschäftigt, doch dann fiel ihnen wieder ein, dass ihre Füße immer noch nass waren. Für die Reiseführer brach ein anstrengender Tumult aus, ein zermarternder Kanon der Undankbarkeit. Gerade als die Reiseführer die Expedition aufgrund des zu anspruchsvollen Publikums abbrechen wollten, geschah etwas Unerwartetes. Auch die Reiseführer, die das faszinierende Lichtspiel der Stadt der Engel gewohnt waren, starrten mit offenen Mündern zur Öffnung in der Decke. Inmitten der hellblauen Lichtsäule erkannten sie nun eine schwebende Gestalt in der Luft. Sie erblickten Aarons Lichtschwingen, die sich gemächlich beugten und krümmten. Er flatterte auf derselben Stelle, ohne auch nur einen Zentimeter an Höhe zu verlieren.

Spätestens jetzt wurde auch der launischste Besucher hellhörig. Dass sich die Veranstalter so viel Mühe machten, eine solche phantastische Luftshow zu präsentieren, hätten sie nicht erwartet. Der Großteil fand es zwar nicht sonderlich originell in der Stadt der Engel einen Schauspieler, der einen fliegenden Engel mimt, an der Decke zu befestigen, aber es war eine willkommene Abwechslung zu der Besichtigung der feuchten Tunnel. Die Reiseführer hingegen wussten, dass Aarons Choreographie nicht zu dem offiziellen Teil der Veranstaltung gehörte. Was auch immer da über ihnen schwebte - es war nicht von dieser Welt.

Aaron beachtete die neugierige Menschenmenge nicht. Er streckte seinen Kopf in Richtung des Mondes und brannte seinen Blick in das dunkle Himmelszelt.

„Ihr schaut mir gerade zu, oder?", fragte Aaron in den Himmel hinein. „Das ist eure letzte Chance, mich wieder aufzunehmen."

Interessiert lauschten die Besucher der kühlen Stimme. Die Idee mit dem fliegenden Schauspieler fanden sie anfangs nicht sonderlich innovativ, aber als Aaron wie ein gefallener Engel wirkte, der seine Wiederaufnahme in den Himmel forderte, fanden sie Gefallen an dem Schauspiel.

„Ich hatte den Fehler gemacht, in dieser Welt zu bleiben", sagte er. „Ich war eurem Ruf nicht gefolgt. Ich blieb hier, da ich glaubte, diese Welt könnte mir mehr bieten, als es euch je möglich wäre. Gerade als ich an dieser Welt Gefallen fand, drehte sie mir den Rücken zu und zerstörte alles, woran ich jemals glaubte. Ihr habt es mitangesehen, oder? Genau wie in diesem Moment habt ihr mich beobachtet ... süffisant grinsend ... von oben herab. Ihr hattet mich ja vor dieser Welt gewarnt, doch ich wollte nicht hören. Ich sah nur das Schöne und blendete all die Missetaten der Menschheit aus. Doch heute erkenne ich nur noch ihren Schatten."

Beinahe hätte die Menge den Fehler gemacht, in Aarons Redepause zu klatschen. Doch ihre Hoffnung wurde bestätigt, als der gefallene Engel seinen Auftritt fortführte.

„Wie oft blickte ich zu euch hinauf?", fragte Aaron. „Wie oft habe ich geglaubt, ihr würdet mich trotz all meiner Fehler immer noch als einen von euch anerkennen? Doch über Jahrhunderte wart ihr stumm geblieben. Das Tor zu euch öffnete sich kein einziges Mal für mich. Keine einzige Nachricht von euch erreichte mich. Ihr habt mich solange ignoriert, bis ich glaubte, ich sei selbst ein Teil des Unheils dieser Welt. Ihr habt mich an diesen Punkt getrieben."

Die begeisterten Zuschauer sahen nicht den feuerzeuggroßen Zünder, den Aaron aus seiner Hosentasche zückte. Sie sahen nicht, wie er die Kappe von dem Detonationsknopf wegklappte.

„Beendet meinen Albtraum", flehte er. „Nehmt mich wieder auf. Nehmt mir all meine Schmerzen. Macht mich wieder zu dem, der ich war, bevor ich einen Fuß auf diese verfluchte Erde setzte. Lasst mich wieder zurückkehren ... Ich flehe euch an!"

Die Touristen waren begeistert von Aarons schauspielerischer Darbietung. Er brach ihnen fast das Herz, so echt fühlte sich die Verzweiflung des gefallenen Engels an.

„Immer noch keine Reaktion?" Aaron sah verzweifelt in den Himmel hinauf. Er schwieg einen Augenblick, ehe er weitersprach. Seine Stimme klang kälter als je zuvor. „Wenn ihr nicht mehr an mich glauben wollt, werde ich wiederum dafür sorgen, dass kein Mensch mehr an euch glauben wird. Ihr wolltet euch stets wie Götter aufspielen und die Hörigkeit dieser schwachen Menschen gewinnen. Ihr dachtet, das Exempel an Babylon würde ausreichen, um eure Macht unter Beweis zu stellen. Doch der Glaube an euch falschen Götter ist verflogen. Diese Ruinen stellen euer Vermächtnis dar - verstaubt und verfallen." Seine Lichtschwingen wickelten sich um ihn wie ein leuchtender Verband. Die Flügel schichteten sich zu einem Kokon übereinander. „Bis ihr mir Gehör schenkt, werde ich euer Vermächtnis von dem Antlitz dieser Welt entfernen. All eure jahrelange Arbeit wird in der Bedeutungslosigkeit versinken. Ich werde jede Ruine und jedes Kunstwerk, das an euch erinnert, auslöschen. Ich werde jeden Menschen, der eurer bloßen Existenz einem Fünkchen Glauben schenkt, auslöschen. Ich werde nicht eher einhalten, bis das Wort Engel aus dem Wortschatz aller Bewohner dieser Welt ausgelöscht wurde."

Langsam fragten sich die Zuschauer, ob der verzweifelte Dialog des Engels nicht ein wenig zu familienunfreundlich für eine frühabendliche Vorstellung sei. Doch Aarons nächste Aktion ließ keinen Zuschauer mehr an der Echtheit von Aarons Schmerzen zweifeln. Bevor ihn der Lichtkokon ganz eingehüllt hatte, sahen sie, wie sich sein Finger über den Detonationsknopf legte.

„Glaubt ihr mir immer noch nicht?", fragte Aaron.

Als ihn der schützende Kokon umhüllte, betätigte er den Zünder. Ein zermarternder Bass erschütterte die gesamte Halle. Die ersten Steinbrocken bröselten von der Decke herab und landeten auf dem überfluteten Boden. Wohin sie auch sahen, stets verfolgte sie dasselbe Bild: Aus allen Tunneleingängen erblickten sie je einen rotglühenden Funken, der auf sie zukam. Je näher er kam, desto mehr wirkte er wie ein riesiger Feuerball, wie eine gigantische Feuerwalze, die in die Halle schoss. Bevor die Panik ausbrechen konnte, erreichten sie von allen Seiten Druckwellen, die sie zu einem Haufen zusammendrückten. All jene euphorischen Besucher wurden an diesem Abend zusammen mit ihren enttäuschten Erwartungen begraben.

Während zwischen Flammen und Schutt niemand überlebte, schwebte Aaron immer noch über ihnen. Eingehüllt in seinem unzerstörbaren Schutzschild, der nichts an ihn heranließ.

Eden OdysseeWhere stories live. Discover now