Ein Stück des Himmels (4)

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Kain stürmte so schnell, wie es ihm seine Ausdauer erlaubte, durch den stockdüsteren Wald. Die Gabelblitze schmiegten sich um seinen Körper und gaben in kurzen Intervallen Blitzschläge an seine Umgebung ab. Blaue Funken schlugen gegen die Eichenbäume und hinterließen schwarze Brandflecken. In der Dunkelheit zierten seinen Fluchtweg kaum sichtbare Zeichen der Verwüstung, dennoch müssten diese kleinen Details für einen Profi ausreichend sein, um Kain ausfindig zu machen. So lange er allerdings den Himmelsstein umklammerte, durchfuhr ihn die himmlische Energie, die ihn im Dunkeln aufleuchten ließ wie ein blaufarbenes Glühwürmchen. Zwischen dem dunklen Geäst war er bereits auf hunderte Meter erkennbar, dennoch war es die schnellste Methode, den Himmelsstein in Sicherheit zu bringen.

Gerade als Kain glaubte, er wäre tief genug in den Wald gelaufen, um alle möglichen Verfolger abzuschütteln, hörte er hinter sich das Knacken mehrere Äste. All die Zeit hatte das kontinuierliche Summen der Elektrizitätsfäden jegliche Geräusche um ihn isoliert, doch in jenem Moment wurde das Brummen übertönt. Sofort blieb er stehen und drehte sich vorsichtig um. Erst erschreckte er sich aufgrund des ihm vorgehaltenen Waffenlaufs, der seine Stirn punktgenau anvisierte. Keine drei Meter trennten ihn von der tödlichen Waffe.

„Kain?", fragte Vincenz. „Bist du das?"

Der Bluthund war in seinem blauen Kerker gefangen. Er sah zwischen den schützenden, elektrischen Fäden hindurch und erblickte seinen Adoptivbruder.

„Hast du den Himmelsstein?"

Langsam nickte Kain Vincenz zu, musterte dabei besorgt den Pistolenlauf. „Es tut mir leid", sagte er vorsichtig. „Aber ich kann ihn dir nicht geben."

Vincenz sah seinen Adoptivbruder an. Seine Mundwinkel und seine Augenbrauen verzogen sich nach unten. Mit bibbernden Lippen fragte er: „Mama wünscht sich diesen Stein, oder?"

Wieder nickte Kain ihm zu, ohne dabei die Waffe aus dem Blick zu lassen.

Vincenz fing an zu zittern, als er seine Handfeuerwaffe noch fester umklammerte. „Fragt Mama noch oft nach mir?"

Kain lenkte sein Blick von Vincenz tödlicher Waffe ab und sah in seine tieftraurigen Augen. „Sie fragt mich oft, wie es dir geht."

„Und was antwortest du ihr?", fragte Vincenz mit hoffnungsvollem Blick.

Kain musste kurz schnaufen, ehe er die Antwort gab. Sein Blick war nun ebenso bedauernd wie der seines Adoptivbruders. „Ich sage ihr jedes Mal, dass du zurecht kommst." Daraufhin bildete sich ein kurzes Lächeln in Vincenz traurigem Gesicht. Den kurzen Augenblick der Freude nutzte Kain sogleich, um sein Gegenüber zu besänftigen: „Ich kann verstehen, wenn du mich hasst. Ich kann verstehen, warum du dich niemals mit mir anfreunden konntest. Aber das hier geht zu weit." Kopfschüttelnd deutete er auf die vorgehaltene Pistole. „Lass es nicht darauf ankommen, Vincenz. Bitte, lege die Waffe nieder."

Das Lächeln seines Bruders war ungebrochen, selbst als die Trauer in seinem Blick wiederkehrte. „Wenn ich dich umbringe ..." Die Worte fielen ihm so schwer, dass selbst sein unschuldiges Lächeln wieder ins Wanken geriet. Er schloss seine blaue Augen, um seine Tränen so lange wie möglich zurückzuhalten, während er zeitgleich seine Pistole senkte. „Wenn ich dich umbringe, dann hätte Mama ja niemanden mehr."

Kain wunderte sich über die plötzliche Gnade. Er könnte nachvollziehen, hätte Vincenz die Gelegenheit genutzt, um sich für seine einsame Kindheit zu rächen. Nicht nur, dass er seinen verhassten ungleichen Bruder entsorgt hätte, er hätte zeitgleich seine Mutter in dieselbe Einsamkeit katapultiert, unter der er jahrelang litt. Stattdessen bewies er, dass all die Jahre der Einsamkeit sein kindliches Herz nicht verderben konnten.

Vincenz hatte seine glasigen Augen keinen Moment von Kain abgewandt. „Würde es dir etwas ausmachen, ihr von mir zu erzählen? Kannst du ihr bitte erzählen, dass ich dich nicht aufhalten wollte?"

„Natürlich kann ich das, Vincenz."

Das Lächeln in Vincenz' Gesicht verbreitete sich, während die erste Träne seine Wange runterkullerte. „Kannst du ihr bitte sagen, dass ich bereit wäre, mit ihr zu reden, falls sie sich entschuldigt?"

„Sie fehlt dir", stellte Kain bedauernd fest.

Vincenz schüttelte hektisch den Kopf, wobei seine Tränen im Wind verteilt wurden. „Ich komme schon zurecht."

Der Anblick des aufgelösten Vincenz schien in der Lage zu sein, Kains beide Herzen zu brechen. Er schaffte es nicht mehr, ihn weiter anzusehen. Die Elektrizitätsfäden um ihn herum formten weiterhin einen schützenden Schild, wenn es auch in dieser Situation einem Kerker glich. Zum ersten Mal seit Jahren verspürte er die Gelegenheit, seinen Adoptivbruder in die Arme zu schließen. Gerne hätte er auch dieses Mal Helena vertreten, sei es nur, indem er Vincenz das Gefühl von familiärer Wärme gab. Wie es Sheytan schon festgestellt hatte, war Kain aufgrund seiner Fähigkeiten dazu verdammt, sich von anderen Menschen fernzuhalten. Er musste weiterhin seinen Weg alleine gehen, auch ohne seinen Adoptivbruder.

„Mit mir kann man reden, weißt du", seufzte Vincenz. „Sie muss nur alle bösen Wörter zurücknehmen, dann entschuldige ich mich auch bei ihr. Sie hat ja meine Nummer, oder?"

Kain nickte. Im Hintergrund näherten sich die ersten Rettungskräfte an. Sirenen schallten durch den Wald, die Blaulichter schienen zwischen dem Geäst durch.

Vincenz wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und präsentierte sein bestes Lächeln. „Du solltest verschwinden."

„Danke Vincenz", sagte Kain und schaffte es sogar, das Lächeln zu erwidern.

„Nichts zu danken. Bitte sag Mama nicht, dass ich geweint habe."

Für einen Augenblick sahen sich beide an. Zum ersten Mal hatten sie das Gefühl, als Freunde auseinanderzugehen, wenn diese Begegnung auch erst durch mehrere Tragödien herbeigeführt wurde. Mit einem kurzen Nicken verabschiedeten sich die Männer stillschweigend voneinander. Mit glasigen Augen sah Vincenz dabei zu, wie die funkenden Blitze tiefer in den Wald verschwanden.

Eden OdysseeWhere stories live. Discover now