Kapitel 299 - Zeichen

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Ich hätte mir mehr Mühe gegeben, aber ich will endlich das Ende verkünden, AHHHHHHHHh

Raven

Nickend betrete ich die Handlung und es wird sofort wärmer. Vor lauter Aufregung habe ich gar nicht gemerkt, wie kalt meine Glieder eigentlich waren. Doch das ist nebensächlich. Wichtig ist, dass ich zu Harry komme und ihn tausend Mal um Vergebung bitte. Mir war noch nie etwa so wichtig, wie endlich ein Ende für diese grausame Zeit, die wir erlebt haben, zu finden. Es muss endlich die Zeit kommen, in der wir glücklich sind und einfach unser so etwas ausleben können, weil das haben wir verdient. Wir haben es einfach verdient.

Ich komme in den Raum, wo all die Leute sitzen und einem Vorleser zuhören. Nur ein paar aus der hinteren Reihe scheinen mich zu bemerken, doch der Rest lauscht neugierig. Still ziehe ich meine dicke Jacke und Mütze aus, suche gleichzeitig nach Harry.

Dann entdecke ich ihn. Er lehnt an einem Steinbalken und hört ebenfalls dem Vorleser zu. Und er sieht besser aus, denn je. Er hat sich die Haare abgeschnitten. Seine braunen Haare stehen jetzt wieder etwas nach oben, so wie ich es immer geliebt habe. Ich muss schmunzeln. Ich liebe ihn so sehr. Doch gleichzeitig fühle ich noch so viel Reue ihm gegenüber.

Anscheinend hat er mich noch nicht bemerkt. Ein Wunder, wenn ich mir vorstelle, was für ein Radau Angie und ich an der Scheibe gemacht haben.

Kurz höre ich dem Vorleser noch zu. Ich könnte fast jedes Wort mitsprechen, denn ich kenne Harrys Buch in und auswendig. Der Leser beendet das Kapitel und klappt das Buch zu.

Harry geht nach vorne und schüttelt dem Leser freundlich die Hand. „So", sagt er und sieht auf eine Liste. „Als nächstes hätten wir ..."

„Ähm!", sage ich mutig laut und hebe eine Hand, gleichzeitig bin ich so nervös, wie noch nie zuvor.

Harry sieht auf, direkt in meine Augen. Sein Blick zeigt Verwirrung, aber gleichzeitig funkeln seine Augen.

„Ich, ähm, ich würde gerne vorlesen", sage ich unsicher, beinahe piepsend.

Er blinzelt, als würde er mich nicht verstehen.

„Wenn das in Ordnung ist", füge ich noch mit pumpenden Puls hinzu. Bitte sag ja. Bitte, Harry.

„Ähm, klar", sagt er mit kratziger Stimme und schüttelt kurz den Kopf, als müsste er aus einer Starre erwachen. „Ja, natürlich." Er geht einen Schritt zur Seite und zeigt auf den langen Pult auf der Bühne. „Nur zu."

Ich atme ein letztes Mal tief ein und aus. Ich schaffe das. Für August. Für uns. Für Harry und mich und unser so etwas. Für die glänzende Zukunft, die uns bevorsteht und all die Liebe, die er verdient, weil er so ein toller Mann ist.

Seinem Blick aus dem Weg gehend, schreite ich an den Leuten vorbei nach vorne. Harry geht wieder zu dem Balken und verschränkt die Arme. Er sieht mir konzentriert zu, wie ich mich hinter den Pult stelle und auf das Buch von ihm sehe, aus dem ich eigentlich vorlesen soll.

Doch ich habe einen anderen Plan.

Ich krame heimlich einen Zettel aus meiner Hosentasche und lege ihn auf das Buch vor mir. Gott, ich darf das nicht versauen.

Ein letztes Mal atme ich tief durch. Der ganze Raum ist still. Schließlich beginne ich.

„Fünfter Tagebucheintrag auf der ZOS für den Literaturkurs", lese ich vor. „Ich fange ungern so einen Tagebucheintrag an, doch es geht nicht anders. Cate, meine Mitbewohnerin hat mich dazu überredet mit ihr auf eine Lesung zu gehen. So schön, so gut, dachte ich mir. Tja, bis wir dann in einer Bar landeten. Und noch ungerner – Ist das überhaupt ein Wort? – fange ich an über dieses arrogante Grübchenlächeln zu schreiben. Ich habe vorgestern schon geschrieben, wie frech er war, doch heute hat er es echt übertrieben. Wir sprachen am Tisch über Beziehungen und so einen Quatsch, bis er irgendwann behauptete, dass man von der ersten Sekunde an merken würde, wenn eine Person zu einem gehört. Du wirst es nicht glauben, aber meine Kinnlade landete auf dem Tisch, als ich das gehört habe. Als ich dann meinte, dass das Schwachsinn wäre und das überhaupt keinen Sinn ergibt, denn das tut es auch nicht, meinte er, ich wäre einer von ihnen. Von diesen Menschen, die nicht glauben, dass man von der ersten Sekunde weiß, wann und wer zu einem gehört. Ich würde geistliche Verbindungen und Seelenverwandschaft abblocken und dadurch würde mir so einiges durch die Finger gleiten. Darauf kann ich nur lachen. Dieser Kerl, mit diesen bescheuerten Locken und diesen so tiefen Grübchen, da kann sogar der Cran Cannion einstecken, behauptet tatsächlich, er hätte Ahnung von so einem Schwachsinn. Ich war kurz davor, ihm mein Lieblingsbuch zum Lesen zu schenken, damit er mal versteht, was dieser Begriff Seelenverwandschaft wirklich bedeutet. Von der ersten Sekunde an merken, ob jemand zu einem gehört. Dass ich nicht lache."

Ich beende kurz den Text und drehe den Zettel um. Der Raum ist immer noch still. Ich traue mich nicht zu Harry zu sehen.

„Zweihundertsiebter Tagebucheintrag auf der ZOS für den Literaturkurs", lese ich weiter. Ich atme nochmal tief durch. „Tut mir leid, dass ich solange nichts geschrieben habe, aber ... Ich habe meine Zeit mit der Person verbracht, von der ich ab der ersten Sekunde wusste, dass sie zu mir gehört. Die mich ab der ersten Sekunde beschäftigt hat ... Wenn auch nur auf die negative Art und Weise. Er ist aber auch manchmal echt ein arroganter Arsch. Aber wie auch immer. Diese Person hat mir von der ersten Sekunde den Atem geraubt, hat mich ohne viele Worte dazu gebracht, Seiten über ihn zu verfassen, nur weil ich einmal mit ihm geredet habe. Ich glaube, das war das, was er meinte, als er sagte, dass man von der ersten Sekunde, weiß, wenn jemand zu einem gehört. Damals wusste ich es noch nicht, aber ... Heute weiß ich, dass er recht hatte. Er hatte so was von Recht. Er redete oft von Schicksal und dem ganzen Kram, dachte er wüsste alles und könnte mich belehren mit Dingen, die ich noch nicht kannte, doch kennenlernen sollte. Damals dachte ich, dass ich mein Leben selbst im Griff habe, doch heute ... Heute, oh du liebes, bescheuertes Tagebuch der ZOS, heute weiß ich, dass ich meinen Seelenverwandten, meinen Beschützer, meine Liebe und meine Zukunft gefunden habe. ... Meinen August. ... Ich glaubte oft an das Schicksal und Zeichen, die uns trennten und wieder zusammenführten, ich dachte immer pessimistisch, doch eigentlich ... Eigentlich, liebes, bescheuertes Tagebuch ... waren da so viele Zeichen, die wir einfach nicht sehen wollten." Ich atme nochmal tief durch. „Zum Beispiel meine verrückte Tante, die mir ins Ohr flüsterte, wie perfekt mein August doch ist. Oder der verschollene Bruder eines kleinen Mädchens, der einfach aus dem Nichts auftauchte, nur um August und mich wieder zusammenzuflicken."

„Oder der Zug, der verpasst wurde, nur damit du bei ihm schlafen konntest", hallt eine tiefe Stimme durch den Raum.

Ich blicke auf. Harry kommt langsam an den Leuten vorbei zu mir.

Ich schlucke schwer. „Oder die Klage, die er mir auf den Hals gehetzt hat."

„Der Zeitungsartikel, der mich nie erreichen sollte." Er redet von der Literaturklatsch.

„Das Buch, das er schrieb. Die Tatsache, dass er August ist."

Harry bleibt knapp zwei Meter vor mir stehen, am Rand der vielen Sitzreihen, mit den Leuten, die uns neugierig beobachten. „Die Frau in der Bar, die mir sagte, ich solle zu dir gehen."

Ich runzle die Stirn. „Welche Frau in der Bar?"

Er lacht etwas. „Unwichtig."

Ich lächle zurück. „Da war ein Schmetterling, der mich hier herbrachte."

Harrys Mund verzieht sich zu einem Lächeln.

„So viele Zeichen, die wir hätten sehen können", rede ich weiter. „Und eines lassen wir ganz außen vor. Das größte Zeichen von allen."

Sein Lächeln verschwindet wieder. Er scheint genau zu wissen, worüber wir reden.

Ich sehe ihm tief in die Augen.

Gleichzeitig sagen wir: „Tammy."


Forever Collide 3 Where stories live. Discover now