131. Alex

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Fünf Tage bin ich jetzt schon bei meiner Mum. In dieser Zeit haben wir uns nur wenig gesehen und noch weniger miteinander geredet.

Sie war zwar überrascht, weil ich ein paar Tage zu früh vor der Tür stand, doch nach meiner kurzen Erklärung, dass Dad grade nicht auszuhalten ist, hat sie nichts mehr gewundert.

Sie hat mich zur Begrüßung umarmt und gemeint, dass sie sich freut, mich zu sehen. Das war etwas, das mich überrascht hat. Dass sie danach wieder rund um die Uhr am Arbeiten war und nicht auch nur im Traum daran gedacht hat, sich mal frei zu nehmen, um Zeit mit ihrem einzigen Kind zu verbringen, das sie seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen hat, hat mich deutlich weniger verwundert. Zwar enttäuscht, aber nicht verwundert.

Ich habe mich dann auch erstmal ein paar Tage in meinem Zimmer verkrochen. Manchmal habe ich meine Mum gesehen, meistens zum Essen oder, wenn ich es doch mal runter aufs Sofa geschafft habe. Wirklich viel zu früher hat sich nicht geändert. Sie starrt noch immer versessen in ihr Hand, ihren Laptop oder ihre Unterlagen, ist ständig am Grübeln und Pläne schmieden und kommt einfach nicht zur Ruhe.

Auf meinen Vorschlag hin, spontan einen Filmeabend zusammen zu machen, sowie ganz früher, war sie dann total gestresst und hat sofort abgelehnt. Dafür hätte sie keine Zeit.

Klar tat es weh, dass der Gedanke daran, etwas mit mir zu machen, das über Nahrungsmittelaufnahme hinausgeht, sie so unter Druck setzt, aber was hätte es schon gebracht, ihr deshalb was vorzujammen? Ich bin es doch gewohnt, dass ich für meine Mum so gut wie immer unsichtbar bin. Außer sie findet Gründe, an mir herumzunörgeln, dann beachtet sie mich sehr gern und macht mich regelrecht fertig, sagt mir, was sie von mir erwartet und dass ich das durchzusetzen habe.

Ich glaube, dass das nicht mehr vorkommt, liegt einzig und allein daran, dass sie schlichtweg keine Erwartungen mehr an mich hat. Ich habe sie auf alle erdenklichen Arten enttäuscht. Wegen meiner Sexualität, weil ich sie jahrelang belogen habe, weil ich es mit meinem Lehrer getrieben habe und weil ich mich gegen Jura und für Fußball entschieden habe.

Meine Mum hat zwar nie ausdrücklich gesagt, dass sie will, dass ich Jura studiere, aber ich vermute, es war einfach selbstverständlich für alle, dass ich das machen werde. Meine Mum, meinen Dad, mich und auch alle anderen.

Ich habe früher wirklich alles getan, um ihren Ansprüchen gerecht zu werden. Ich wollte, dass sie stolz auf mich ist und vielleicht habe ich gehofft, auch mal ein „Ich habe dich lieb" von ihr zu hören, wenn ich das erreiche.

Aber ich schätze, ich bin erwachsen geworden. Ich tue nicht mehr alles dafür, mir die Zuneigung meiner Mum zu verdienen, denn obwohl ich mir das durchaus noch wünsche und es vielleicht sogar bräuchte, habe ich verstanden, dass meine Mum einfach niemand ist, der so etwas zeigt. Sie kann das gar nicht, und, wenn man das mal verstanden hat, macht es das deutlich einfacher.

Wirklich übelnehmen kann ich ihr das nicht, ich bin ja genauso. Aber das ändert nicht wirklich etwas daran, dass es manchmal, grade, wenn ich sowas wie mütterliche Zuwendung bräuchte, sehr wehtut.

Heute ist der erste Tag, an dem ich mich rauswagen will. Meine Freunde spamen schon die ganze Zeit, wann ich ankomme und was wir dann machen, aber ich habe sie total ignoriert, mein Handy ausgeschalten und mich regelrecht von der Außenwelt abgeschottet. Ich brauchte das, so ein paar Tage nur für mich, ohne Erwartungen und Druck und die Notwendigkeit meiner Schauspielskills.

Aber jetzt bin ich bereit für Gesellschaft und ich weiß auch schon genau, zu wem ich will. Lucy. Ich brauche jemanden, der mir um den Hals fallen und mir vor Freude, mich zu sehen ins Ohr kreischen wird.

Erst, als ich darüber nachdenke, ihr zu schreiben, dass ich gleich vorbeikomme, fällt mir auf, dass wir schon länger nur noch wenig Kontakt hatten. In den Gruppenanrufen war sie zuletzt nur noch sehr selten dabei und im Chat, sowohl in der Gruppe als auch mit mir war sie auch irgendwie... distanziert. Sie hat mir auf meine Frage, wann ihr uns treffen können, nie wirklich eine Antwort gegeben.

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