99. Tyler

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„Wie geht es Ihnen heute?"

Gott, ich hasse diese Frage.

Früher habe ich mich noch bemüht zu lügen, wenn ich sie beantwortet habe. Ich war total stolz, wenn man mir das abgekauft hat, aber irgendwie auch ein wenig enttäuscht, weil grade das bewiesen hat, dass es niemanden, der mich das gefragt hat, wirklich interessiert hat, wie es mir geht. Zumindest nicht genug zu bemerken, dass ich lüge.

Dann habe ich angefangen, der Frage auszuweichen, indem ich Gegenfragen gestellt habe, weil ich nicht mal mehr mir selbst vormachen konnte, dass „Alles okay" ist.

Und dann bin ich jedem aus dem Weg gegangen, der auch nur daran hätte denken können, mich das zu fragen und habe der einzigen Person, vor der ich nicht fliehen konnte, John, klargemacht, dass er mich das nicht mehr fragen soll.

Aber mein Psychologe zieht jede Woche die gleiche Nummer ab. Ich versuche sogar wirklich ehrlich zu sein, immerhin nützt mir all das hier sonst nichts, aber trotzdem triggert diese Frage irgendwie ein inneres Brodeln in mir. Ich bin richtig verzweifelt, weil ich nicht weiß, wie ich auf diese 5 simplen Worte reagieren soll und das macht mich wütend.

Er bemerkt mein Zögern natürlich und fängt sofort an, irgendwas auf seinen Block zu kritzeln. Das setzt mich total unter Druck. Ich bekomme wirklich gar nichts auf die Reihe.

„Wie nutzen Sie denn Ihre Ferien bisher?", will er schließlich so freundlich wie immer wissen.

Er ist wirklich nett und er kann gut zuhören und interessiert nicken, aber ich mag es nicht, dass er so viel mitschreibt. Ich habe das Gefühl, jedes Wort, das ich sage, wird auf diesem Papier verewigt und mir später vorgehalten, obwohl ich nie weiß, was er sich notiert. Vielleicht sind es Fakten, die ich ihm mitteile, vielleicht Überlegungen zu einer Diagnose, aber vielleicht schreibt er sich auch eine Einkaufsliste... Wer weiß das schon.

„Ähm, ich schlafe hauptsächlich", gestehe ich ehrlich.

Ist wohl nicht unbedingt das, was ich sagen sollte, um irgendwem zu verklickern, dass ich mein Leben im Griff habe. Aber mein Psychologe weiß ohnehin schon, dass bei mir oben im Stübchen was nicht stimmt.

Schon in unserer dritten Sitzung, als ich spaßeshalber gefragt habe, was denn seine Diagnose ist, meinte er, er vermutet, ich sei ein Echoist.

Ich wusste gar nicht, was das bedeutet und habe mich auch nicht getraut, nachzufragen. Also habe ich im Internet nachgeschaut, als ich zuhause angekommen bin, und das hat mir unter anderem Folgendes ausgespuckt:

„Echoismus ist keine Störung, sondern ein Merkmal, das einfacher zu verstehen ist, wenn wir es als eine Überlebensstrategie konzipieren. Echoisten denken, dass sie so wenig wie möglich von anderen Menschen verlangen dürfen, wenn sie sich sicher und geliebt fühlen wollen. Gleichzeitig sind sie der Meinung, dass sie alles geben müssen, was sie können"

Ich habe bestimmt 20 Artikel dazu gelesen, um rauszufinden, dass ich mich regelrecht für andere aufgebe, glaube, nichts wert zu sein, wenn ich die Bedürfnisse von anderen nicht befriedigen kann, meine eigenen Bedürfnisse hintenanstelle, falls ich überhaupt welche habe, die darüber hinausgehen, andere zufrieden zu stellen, emotional extrem sensibel bin und durch meine Aufopferungsbereitschaft wohl ein Magnet für Narzissten.

Dann habe ich mich genauer über Narzissmus informiert und musste feststellen, dass sowohl John als auch Alex bestimmte Züge davon aufweisen. Zwar nicht so, dass es ihr gesamtes Sein bestimmt oder als krankhaft geltend gemacht werden könnte, aber deutliche Zusammenhänge sind da schon erkennbar. Vor allem bei John.

Ich habe mit ihm darüber geredet. Naja, es ihm eher gebeichtet, würde ich behaupten. Er hat angefangen zu lachen und meinte, das sei der perfekte Beweis dafür, dass wir einfach füreinander bestimmt sind.

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