Tyler und ich laufen bestimmt 30 Minuten durch die Kälte. Es ist stockfinster, einzig und allein die Straßenlaternen geben Möglichkeit zur Orientierung.
Tyler reicht das, um seinen Weg nachhause zu finden. Er kennt sich hier gut aus, ohne ihn würde ich mich niemals zurechtfinden. Aber nicht nur deshalb bin ich froh, dass er da ist.
Er weicht zwar meinen Blicken aus, will nicht mit mir reden und hat meinen Versuch, seine Hand zu nehmen dadurch abgewehrt, dass er die Hände in die Hosentaschen geschoben hat, aber wirklich übelnehmen kann ich ihm das nicht. Fürs Erste reicht es mir, ihn einfach ansehen zu können.
Er zittert leicht, hat die Schultern hochgezogen, seine Nasenspitze ist ein bisschen rot und sein Atem wird als heller Nebel in der kalten Nacht sichtbar.
Ich hätte gerne eine Jacke oder einen Hoodie, den ich ihm geben könnte, aber alles, was ich trage, ist ein Shirt und davon hat er selbst eins an. Außerdem bin ich mir sehr sicher, dass er im Moment nicht die geringste Hilfe oder Aufmerksamkeit von mir annehmen würde.
Wahrscheinlich wäre es eine gute Idee gewesen, Julians Angebot, noch ein bisschen zu warten und uns dann von ihm fahren zu lassen, anzunehmen. Aber ich konnte nicht mehr warten und schon bevor ich das deutlich machen konnte, hat Tyler für uns beide entschieden, dass es kein Problem für uns ist zu laufen und dass frische Luft guttut.
Die Sterne sind am Firmament sichtbar, ein Indikator dafür, wie kalt es ist. Es gibt keine Wolkenmassen, die die aufsteigende, warme Luft unten kalten könnten und auch nichts, das die Erdoberfläche bei Nacht wieder wirklich erwärmen könnte. Uns bleibt also nur die Möglichkeit, auf den Morgen zu warten oder uns endlich in eine Wohnung zu flüchten und die Heizungen aufzudrehen.
Tylers Anblick in dieser Umgebung gefällt mir jedoch. Klar finde ich es nicht toll, dass er friert, aber der Sternenhimmel als Hintergrund steht ihm irgendwie.
Seine Haare müssen fast doppelt so lang sein wie sie es waren, als ich ihn zuletzt gesehen habe, und das, obwohl sie sich süß locken. Er schaut oft nach unten, wodurch ihm die Haare ins Gesicht fallen und es fast vollständig bedeckten.
Am liebsten würde ich einfach meine Hand nach ihm ausstrecken und ihm die Strähnen zurückstreichen. Sie hinter sein Ohr schieben oder solange zurückkämmen, bis sie dortbleiben. Zwar sieht er so total verwegen und unglaublich sexy aus, aber ich würde gerne sein hübsches Gesicht besser sehen können.
Trotzdem hindert mich das nicht daran, ihn weiter zu mustern. Er hat an Muskeln zugelegt, das habe ich vorhin, als ich im Club nachgetastet habe, bereits gespürt und es war davor auch schwer zu übersehen.
Ich kenne Tyler und seinen Körper so gut, ein einziger Blick hat gereicht, um festzustellen, was genau sich daran verändert hat. Vor allen die Brust und die Oberarme sind deutlicher geworden, aber auch sein Bauch.
Trotz den Muskeln, die er zugelegt hat, glaube ich aber, dass er auch abgenommen haben muss und das gefällt mir nicht. Er ist echt total dem Fitnesswahn verfallen und ich weiß nicht, ob das noch wirklich gesund ist.
Tyler hat unglaublich viel Disziplin. Wenn er sich ein Ziel gesetzt hat, dann wird er den Weg bis dahin auch durchziehen. An sich ist das ja schön und gut, ich will nur nicht, dass er hungert oder sich da zu sehr reinsteigert. Klar soll er sich wohlfühlen in seinem Körper, aber es tut irgendwie weh, dass er sich vorher nicht so schön fand wie ich. Einfach alles an ihm war perfekt, für mich die unwidersprüchlichste Definition von Schönheit. Aber er hat das nie so gesehen.
Ich würde gern mit ihm darüber reden. Einfach mal nachfragen, was sein Trainingsziel ist und geheim überprüfen, wie er sich ernährt. Aber Tyler ist nicht dumm, er würde das sofort bemerken und dann wahrscheinlich kein Wort mehr mit mir wechseln.
Das heißt nicht, dass ich das Thema nicht ansprechen werde, ich muss nur auf den passenden Zeitpunkt warten. In einer Lage wie unserer kann ein schlechtes Timing das endgültige Aus bedeuten und das muss ich verhindern.
Das ist so absurd. Ich habe Schluss gemacht, wollte, dass er mit mir abschließt, einen Neuen findet und nach vorne schaut. Und was passiert, als ich ihn wieder treffe, mit dem Arm von einem anderen Typen um sich? Ich werde eifersüchtig und es kostet mich meine gesamte Kraft, den Typen nicht zu vermöbeln.
Hätte ich gesehen, dass Tyler sich in seinem Arm wohlfühlt, hätte die Sache vielleicht nochmal anders ausgesehen. Aber wie gesagt, ich kenne Tyler und so erkenne ich auch, wann er etwas genießt und wann er am liebsten flüchten will. Dieser Nico-Mico-Schmico-keine-Ahnung-was-sein-Name-ist ist wohl einfach zu ignorant, um zu checken, dass er Tyler bedrängt hat und Tyler ist einfach zu nett, um ihm das vor allen ins Gesicht zu sagen.
Ich bin jedenfalls froh, dass ich herausgestellt hat, dass Ty nichts Ernsthaftes mit diesem schlechten Abklatsch von mir hat.
Als ich ihn gesehen habe, musste ich erstmal fast lachen. Gäbe es John nicht, müsste ich Ty wirklich unterstellen, einen bestimmten Typ Mann zu haben, auf den er steht, aber letztendlich hat sich ja herausgestellt, dass er von Mick-Nick-Arschgesicht-wie-auch-immer-er-heißt gar nichts will.
Gut so. Der Typ ist zwar nicht sterbenshässlich, aber Ty könnte trotzdem Bessere haben. Mich zum Beispiel.
Ganz ehrlich? Ich habe Panik bekommen, als ich wusste, dass ich ihn nach dem Spiel treffen werde. Dass Lila danach feiern gehen wollte, kam mir grade recht. Ich wollte mir Mut antrinken und dann mit meinem Restalkohol mittags bei ihm vorbeischauen und jede Dummheit von mir auf den Kater schieben können.
Als ich Ty da so eingekeilt zwischen Bob und John gesehen habe, hatte ich auch echt das dringende Bedürfnis mich abzuschießen, aber ich wollte meinen Blick nicht von ihm losreißen. Ich musste auf ihn aufpassen. Es hätte auch sein können, dass es ihm unangenehm ist und er Hilfe braucht. Also stand ich die ganze Zeit wie ein Creep in der Ecke und habe ihn beobachtet.
Eine junge Frau hat mich sogar für einen Drogendealer gehalten und wollte, dass ich ihr was verticke. Soweit ist es schon gekommen.
Ich bin erleichtert, als wir in Tylers Straße einbiegen und mir die Umgebung wieder bekannt vorkommt. So dauert es nicht mehr lange, bis wir in seiner Wohnung ankommen, endlich im Warmen.
„Ich mache mir einen Tee, willst du auch?", meint Tyler schon beim Schuhe ausziehen. Dann dreht er erstmal die Fußbodenheizung auf.
„Gerne."
Ich folge ihm in die Küche.
Er beginnt, im Schrank herumzukramen und fragt dabei: „Irgendwelche Präferenzen, was den Geschmack angeht? Vanille und Himbeere? Oder Früchtetee? Oder-"
„Ist mir ziemlich egal"
Ohne mich anzusehen, nickt er, nimmt irgendwas raus und kramt dann weiter nach dem Wasserkocher. Ich stehe in der Zeit einfach nur da und beobachte ihn weiter.
„Du kannst es dir im Wohnzimmer gemütlich machen oder so", sagt er nebenbei zu mir, noch immer ohne mich eines einzigen Blickes zu würden.
Er ist zwar nett zu mir, sowie zu allen anderen Menschen auch, aber trotzdem mag ich nicht, wie er grade mit mir umgeht. Er tut fast so als seien wir Fremde.
Vor nicht mal einer Stunde hatte ich noch seinen Schwanz im Mund. Wir sind keine Fremden und ich werde nicht zulassen, dass wir jemals zu Fremden werden. Ich werde diese Wohnung nicht verlassen, wenn ich mir nicht sicher sein kann, dass ich Tyler wiedersehen werde. Ich kann nicht einfach gehen und mein Leben leben, wenn ich es sich so anfühlt, als müsste ich sterben, um das zu tun. Das geht nicht.
Trotzdem gehe ich ins Wohnzimmer, um Tyler eine kleine Pause zu geben. Meine Anwesenheit überfordert ihn, das merke ich ihm deutlich an. Wie er vorhin reagiert hat, dass er geschrien und fast schon um sich geschlagen hat, beweist, dass ihn das alles extrem fertigmacht.
Es geht ihm schlecht, das wollte ich nie. Ich habe Schluss gemacht, weil ich dachte, es wäre das Beste für ihn. Ich dachte, ich könnte ihn unter diesen Umständen nicht glücklich machen und ich glaube das auch heute noch, aber ich habe begriffen, dass er so wie es jetzt ist auch nicht glücklich werden wird. Wir müssen eine andere Lösung finden.
Ich weiß, dass ich einen Fehler gemacht habe. Ich muss ihn um verzeihen bitten und ihm klarmachen, dass ich dazu bereit bin, etwas zu ändern. Ich weiß nur nicht was und, ob er das überhaupt will. Ich habe ihm sehr wehgetan. Ich weiß nicht, ob er mir das verzeihen kann. Ich weiß ja nicht mal, ob er versteht, warum ich das getan habe...
Nach ein paar Minuten gehe ich zurück in die Küche, bewaffnet mit einer Decke aus dem Wohnzimmer.
Tyler steht mit dem Rücken zu mir, als ich in den Raum komme. Er hat die Hände auf der Küchenablage abgestützt und trommelt angespannt mit den Fingern darauf herum, während er den Wasserkocher todstarrt.
Ich nähere mich ihm langsam an, öffne dabei die Decke und lege sie ihm schließlich um die Schultern.
Zunächst zuckt er leicht zusammen, erschreckt sich offensichtlich, doch dann entspannt er sich sofort wieder, richtet sich auf und zieht die Decke enger um sich. Dabei dreht er sich zu mir um und bedankt sich leise. Er versucht, mir in die Augen zu sehen, doch schafft es nicht. Sein Blick fällt runter auf meine Brust und bleibt dort.
„Leg dich ins Bett unter die Decke", schlage ich ihm leise vor. „Ich bringe gleich dir den Tee"
Ich würde ihn gerne anfassen. Über seine Arme reiben oder seine Haare zurückstreichen oder über seine Wange streicheln. Aber ich kann gerne auf die Abweisung verzichten, also belasse ich es bei einem liebevollen Blick.
Er schaut vorsichtig hoch in meine Augen, zieht dabei die Decke noch enger um sich. „Ist dir nicht auch kalt?"
„Es geht", versichere ich ihm.
Ich muss leicht lächeln, weil er so süß aussieht mit dieser rötlichen Nase und den ebenso verfärbten Wangen und wie er die Decke um sich hält und aus etwas weiter geöffneten Augen zu mir hochschaut als sei ich der Weihnachtsmann, der grade eingeflogen ist.
„Okay" Tyler gibt sich mit meiner Antwort zufrieden und macht sich auf den Weg in sein Zimmer. „Aber beeil dich", meint er noch, bevor er den Raum verlässt.
Erst dann erlaube ich es mir, mein Lächeln wirklich zuzulassen, dieses Kribbeln in meinem Bauch und meine allgemeine Freude, bei ihm zu sein. Fünf Monate war ich ohne ihn. Fünf verdammte Monate zu viel, meiner Meinung nach.
Er wirkt nicht so als würde er mich abgrundtief hassen. Er lässt mich in seiner Wohnung sein und scheint es nicht eilig zu haben, mich loszuwerden. Vorhin hat er gesagt, er liebt mich. Er hat sich von mir küssen lassen und es erwidert und wollte ebenso mehr wie ich. Vielleicht haben wir wirklich noch eine Chance.
Ich bewaffne mich mit einer Kanne voll mit Tee, zwei Tassen und den Teebeuteln, die Tyler rausgelegt hat und mache mich damit auf den Weg in sein Zimmer.
Wie zu erwarten, sitzt er eingekuschelt und zugedeckt im Bett, allerdings ist es hier drin wieder etwas kälter. Anscheinend hat er mal wieder den ganzen Tag das Fenster offengelassen und eben erst geschlossen.
Ich stelle alles neben ihm auf den Nachtkästchen ab, setzte mich dabei auf seine Bettkante und fülle dann eine Tasse mit Wasser.
„Früchtetee?", hake ich nach, obwohl ich die Antwort eigentlich schon weiß.
Er nickt, also bekommt er den entsprechenden Teebeutel in sein Wasser.
Ich mache mir ebenfalls einen, gehe dann aber nochmal in den Flur, um nach der Heizung in seinem Zimmer zu schauen.
Da geht noch was. Ich drehe sie etwas weiter hoch, so auf 23 Grad und gehe dann wieder zu Tyler, der schon seine Tasse in beiden Händen hält und sich daran wärmt.
Er sieht so süß aus, am liebsten würde ich ihn küssen.
Ich setze mich aber neben ihn auf die Bettkante, nehme ebenfalls meine Tasse in die Hände und merke erst dadurch richtig, wie kalt meine Finger eigentlich sind.
Nach grade mal einer Sekunde rutscht Tyler zur Seite und meint, sich soll zu ihm unter die Decke kommen.
„Darf ich wirklich?"
Ich weiß, er meint es nur gut, aber für mich bedeutet diese Geste so viel mehr. Ich darf zu ihm unter die Decke, ihm nah sein, unsere Wärme austauschen... Das macht mich glücklich.
„Ja, komm!" Er schaut mich auffordernd an und hebt dabei die Decke hoch.
Ich setze mich also neben ihn, lehne ich ebenfalls an die Wand in unserem Rücken und decke mich dann zu. Das ist echt schon viel besser.
Tyler sorgt auch dafür, dass die Decke, die er um die Schultern hat, ebenfalls um mich liegt und tastet dann überprüfend mit seiner heißen Hand nach meinen kalten Armen.
„Du bist noch ganz kalt", murmelt er dabei besorgt.
„Halt mal" Ich nehme seine Tasse, sodass er sich besser bewegen kann. Er nimmt die Decke auch von seiner anderen Schulter und sorgt dafür, dass ich quasi richtig darin eingewickelt bin, ehe er mir seine Tasse wieder abnimmt, sich zurücklehnt und seinen Tee schlürft.
So richtig bemerke ich erst, dass ich wieder zu lächeln angefangen habe, als mir bereits die Wangen wehtun.
Ich höre auf, ihn anzustarren, schaue stattdessen runter in meinen Tee und freue mich insgeheim, weil er sich noch um mich sorgt. Mich hat noch nie jemand so gut behandelt wie er. Man fühlt sich da richtig wertvoll und behütet.
Wir sitzen eine Weile stumm nebeneinander, trinken unseren Tee und vermeiden es, uns anzusehen. Wenn ich bemerke, dass er mich anschaut, will ich seinen Blick erwidern, doch er sieht dann sofort weg und andersrum ist es genau gleich.
Eigentlich ist das doch echt Kindergarten hier. Wir empfinden offensichtlich noch was für einander, doch keiner von uns findet die Eier, mit einem Gespräch zu beginnen.
Ich weiß, es liegt an mir. Ich habe es verbockt, also sollte auch ich es wieder geradebiegen. Tyler muss und soll mit nicht hinterherrennen. Ich sollte mich um ihn bemühen und ihm zeigen, dass ich für ihn gerne über meinen Schatten springen kann.
Ich muss nur noch die richtigen Worte rauspiken, in meinem Hirn schweben jedenfalls genügend herum.