Höhö suprise ;)
Kann mir mal einer erklären, wieso ich hier bin?
Ich meine nicht nur überhaupt existent – also das auch – aber jetzt grade hier an diesem Ort. In dieser Wohnung, auf diesem Sofa und so richtig lost.
Vor mir tanzen drei Paare und ich sitze dumm rum und schaue zu. Mein Pegel ist eindeutig noch nicht hoch genug, mir das zu geben ohne innerlich zu toben. Ich gönne ja echt jedem sein Glück, aber so kurz nach einer Trennung ist es absolut beschissen, es so unter die Nase gerieben zu bekommen, dass es bei allen anderen gut läuft, nur bei mir nicht.
Keine Lust mehr, ich verzieh mich. Bemerkt doch eh keiner, wenn ich weg bin. Rauchen klingt gut. Jetzt muss ich nur noch einen Balkon oder ein großes Fenster finden, denn ich habe absolut keine Lust, die ganzen Stockwerke runter zu laufen und wieder hoch. Und bei Aufzügen bin ich immer ziemlich misstrauisch. Ich habe zu viele Filme geschaut, um mich darin wohlzufühlen...
In Aufzügen passiert doch immer was Schlimmes... Einmal ist der so halb stecken geblieben und dann kam die Feuerwehr und hat die Türen geöffnet und die Leute sind so rausgekrochen und dann bei einer Person hat sich der Aufzug einfach gelöst und ist runterfallen und hat die Person dann in zwei geteilt. WTF?! Ich will nicht gezweiteilt werden. Ich mag meine Beine. Ich will die behalten.
Ich finde eine große Glastür, schiebe sie zur Seite und trete auf den Balkon. Es ist frühe Nacht, so zehn Uhr, doch erst jetzt ist die Sonne am Untergehen. Dieser Anblick gefällt mir schon deutlich besser als das da drinnen.
Ich lehne mich an das Geländer, pule meine Zigaretten hervor, klemme mir eine zwischen die Lippen und zünde sie an. Als ich tief einatme, fühle ich mich schon viel besser.
Damals, mit 14, habe ich allein für die Ästhetik mit dem Rauchen abgefangen, aber, obwohl es teuer ist, gesundheitliche Schäden mit sich bringt und auf viele doch eher abschreckend wirkt, finde ich heute viele Vorteile daran. Beruhigung zum Beispiel. Eine Konstante, die mir keine nehmen kann, weil es ganz allein in meiner Hand liegt.
„Zigaretten!"
Ich schrecke auf, als ich diesen freudigen Ruf höre und sehe zur Seite. John kommt mir auf dem langen Balkon entgegen, der wohl um die Wohnung herumführt.
„Bitte sag mir, dass du mir eine abgeben willst!"
Leicht verwirrt reiche ich ihm die Packung, in der sich auch das Feuerzeug befindet.
„Ach schön, das gute Zeug", freut er sich.
Vorhin, als er sich neben mich gesetzt hat, war es mir noch ziemlich unangenehm. Er hat mich ein bisschen eingeschüchtert, um ehrlich zu sein. Er ist so groß und breit und er hat so geschaut, als wolle er am liebsten Prügel austeilen. Ich bin trotz der Muskeln vom Sport und der Arbeit auf dem Bau zwar ganz gut gebaut, aber ich kenne mich gut genug, um zu wissen, dass ich immer der bin, der die Prügel kassiert statt sie auszuteilen. Ist ein ungeschriebenes Gesetz.
„Du wirst mir immer sympathischer", John reicht mir grinsend die Schachtel zurück.
Jetzt, wo wir ein bisschen geredet haben und er mir sein Lächeln gezeigt hat, kann ich gar nicht mehr glauben, dass ich ihn für einen Schläger gehalten habe. Er ist eigentlich ganz nett.
„Was machst du hier draußen?", fragt er.
Erst dann, als er mich auffordernd anschaut, um eine Antwort zu bekommen, bemerke ich, dass ich die ganze Zeit, seit er hier ist und mit mir geredet hat, noch kein Wort gesagt habe. Das kommt öfter vor, wenn ich mit Fremden zusammen bin, bei denen ich mir noch unsicher bin, was ich von ihnen halten soll.
Es überrascht mich selbst, dass ich mich mit Lion quasi auf Anhieb schon so gut verstanden habe, da wir beide nicht die kontaktfreudigsten Menschen sind. Aber mir ist auch aufgefallen, dass wir einfach nur die richtige Umgebung brauchen, um aufgehen zu können. Sowie Blumen, die nur unter den richtigen Konditionen erblühen können.
Der Vergleich gefällt mir. Ich wäre gern eine hübsche Blume. Stattdessen bin ich wohl eher ein Grashalm, der unter der Scheiße eines kleinen Rattenköters erstickt...
„Okay, ich kann auch mit mir selbst reden" John wirkt nicht so als würde es ihn verletzen, dass er keine Antwort von mir bekommt. Ich mache das ja auch nicht mit Absicht. Manchmal brauche ich einfach längere Denkpausen... Bin eben nicht die hellste Kerze auf der Torte.
„Ich weiß gar nicht, was man so sagt, wenn man mit sich selbst redet... Ist das überhaupt ein Ding? Macht man sowas? Oder ist man dann schon verrückt?" Da er mit sich selbst reden will, gehe ich mal davon aus das sind eher rhetorische Fragen. Ich schaue ihn einfach an und rauche meine Kippe, während er hörbar nachdenkt. „Naja, hab schon Verrückteres getan... Trotzdem ist es blöd, mit mir alleine zu reden. Sex macht auch zu zweit mehr Spaß. Oder zu dritt. Oder zu viert. Mit mehr habe ich keine Erfahrung. Du?"
Ich schüttele panisch den Kopf.
Jesus Christus. Ich und Sex? Hell no.
Ich bin zwar 21, aber bei mir hat sich noch kein sexuelles Verlangen aufgetan und ich glaube auch nicht, dass da noch was kommen wird. Ich bin voll okay damit, aber alle, die davon wissen, machen irgendwie ein total großes Ding draus, so als wäre mein Leben ohne Sex nur halb so schön. Mein bester Freund zum Beispiel, der der Meinung ist, ich habe nur zu viel Angst, beim Sex zu tollpatschig zu sein, meine Ex, die meinte, eine Beziehung ohne Sex ist auch eine ohne Liebe, oder meine Schwester, die es nicht lassen kann, mich damit ärgern zu wollen, dass sie mit mehr Mädchen geschlafen hat als ich. So als müsste ich mich dafür schämen.
Ich verstehe das nicht. Ich finde Sex seltsam. Allein der Gedanke daran wirft so viele Fragen bei mir auf.
Das einzige, was ich verstehe, ist, dass man Sex für Fortpflanzung braucht. Warum man das zum Vergnügen machen sollte, ist mir ein Rätsel. Ist doch voll komisch, sich so nackt an jemanden zu reiben und überhaupt... no thanks.
„Dachte ich mir irgendwie schon. Du siehst so unschuldig aus. Wie ein Pinguin"
Ich sehe John verwirrt an.
Ich habe noch nie in den Spiegel gesehen und dachte mir ah, ein Pinguin!. Ich finde, ich sehe ganz menschlich aus. Ich mag zwar meine blonden Haare nicht, aber der Rest ist akzeptabel und mit Sicherheit nicht pinguinhaft.
„Na, weil Pinguine nur einen Partner haben und den dann für immer, weißt du? Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich das langweilig oder süß finden soll"
Ich finde es romantisch. Immerhin könnten sie sich ja neue Partner suchen, aber offensichtlich wollen sie das nicht. Ist doch toll. Muss schön sein, jemandem auszureichen sowie man ist...
„Aaaalso ich kann dir noch ein bisschen was über Pinguine erzählen, hab mir erst letztens eine Doku dazu reingezogen. Oder aber du fängst auch mal an zu reden. Wie sollen wir denn so Freunde werden?"
„Das war eigentlich nur Spaß mit dem Freunde werden", murmele ich an meine Zigarette, ehe ich sie mir wieder zwischen die Lippen klemme und einen tiefen Zug nehme.
„Oha, du meinst es also nicht ernst mit mir?" John schaut mich ganz verletzt an und hält sich die Hand aufs Herz.
Ich zucke mit den Schultern.
Dass wir einen ähnlich dunklen Humor haben, ist eigentlich eine ganz gute Voraussetzung für Freundschaft oder? Aber ich bin so schlecht im Leutekennenlernen. Ich bin froh, wenn ich über andere Personen mit neuen Leuten in Kontakt komme und sich dann so langsam aber sicher eine Freundschaft entwickelt. Ich selbst kann sowas gar nicht. Ich mag es nicht, Dinge von mir preiszugeben und dann mit den Reaktionen von anderen darüber umgehen zu müssen. Ich kann darauf verzichten, von jedem verurteilt und oder bewertet zu werden. Ich ziehe gern mein eigenes Ding durch. So habe ich zwar nicht wirklich viele Freundschaften, aber die, die ich habe, sind ehrlich und aufrichtig und das ist es, worauf es mir ankommt.
„Komm schon, da drin warst du noch nicht so schweigsam. Erzähl mir was über dich" John lehnt sich zu mir ans Geländer, so nah, dass sich unsere Arme dabei berühren.
„Was soll ich denn erzählen?" An mir gibt es nichts, aber auch gar nichts, das andere irgendwie interessieren könnte. Ich bin quasi die Definition von Durchschnitt. Meine große Stärke ist, dass mir meine Unbesonderheit bewusst ist, während viele andere sich deutlich überschätzen.
„Erzähl mir von dem Moment, in dem du dich bisher am lebendigsten gefühlt hast"
Das ist komisch für Kennenlern-Smalltalk. Sollte ich nicht über sowas wie meine Lieblingsfarbe reden oder über meinen Job? Aber andererseits finde ich es irgendwie beeindruckend, dass er das einfach überspringt oder eben hintenanstellt und was wissen will, das mich vielleicht wirklich ausmacht. Es zeigt, dass er absolut nicht oberflächlich ist und wenig Wert auf leere Fakten legt.
„Ganz ehrlich?", hake ich nach.
John nickt. Sein Blick ist ungewöhnlich ernst geworden, aber interessiert.
„Eine Mutprobe" Ich schmunzele und sehe zum Horizont, der mittlerweile beinahe komplett rotorange verfärbt ist. „Meine Freunde und ich haben uns vor fahrende Züge gestellt und geschaut, wer ihn näher an sich heran kommen lässt. Dieses Adrenalin und die Gewissheit, dass mein Leben so... zerbrechlich ist, dass es in nur wenigen Sekunden vorbei sein könnte, war einfach unbeschreiblich."
John sagt nichts. Er sieht mich einfach nur an, das weiß ich. Doch trotzdem erwidere ich seine Blicke nicht.
Ich muss lächeln, als ich mich erinnere. Damals dachte ich noch, mein Leben sei mir scheiß egal. Ich habe mich für so einen Schwachsinn quasi regelmäßig in Gefahr gebracht, doch seltsamerweise waren genau das die Momente, in denen ich keine Angst hatte. Ich wusste, dass ich nur einen falschen Schritt machen muss oder es eine Sache von Sekunden ist, bis mein Leben vorbei sein könnte, doch ich wusste auch, dass es in meiner Hand liegt dafür zu sorgen, dass ich überlebe und obwohl ich mir oft genug eingeredet habe, dass ich doch ohnehin nutzlos bin und mich keiner vermissen würde, wollte ich nicht sterben.
Wenn ich gedacht habe, alles fliegt mir um die Ohren und ich verliere mich darin, was andere von mir erwarten, was ich tun und wer ich sein soll, aber nicht kann, dann habe ich mir durch solche Aktionen in Erinnerung gerufen, dass ich der einzige bin, der die Kontrolle über mein Leben hat und dass es meine Entscheidungen sind, die darüber bestimmen.
„Was ist mir dir?", will ich irgendwann wissen.
Keine Ahnung, wie viel Zeit bis dahin vergangen ist. Es könnten nur ein paar Sekunden gewesen sein, aber auch eine halbe Ewigkeit.
Er schüttelt den Kopf.
„Fällt dir nichts ein?"
Er zuckt mit den Schultern. Er hat den Spieß, was das nicht reden angeht, wohl umgedreht.
„Was macht dich glücklich?"
„Meine Katze"
Das bringt mich leicht zum Lachen. Ich weiß selbst nicht wieso. Ich glaube, es liegt daran, weil ich mit so ziemlich allem gerechnet hätte, nur dem nicht.
Er schaut mich dafür jedoch böse an. „Lach nicht, die ist süß"
„Darf ich mal sehen?"
Er nickt, drückt seine Zigarette am Geländer aus und lässt sie dann einfach runterfallen. Da das für mich heißt, dass er keinen Aschenbecher hat, tue ich das gleiche. Auch, wenn sich mein schlechtes Gewissen regt. Die arme Umwelt...
„Komm mit" Er geht voran und ich folge ihm. Wir laufen durch den Flur, sehen dabei ins Wohnzimmer und sehen Finn und Pia tanzen, sowie Lila und Nessi. Alex und Tyler sind verschwunden. Was die wohl machen, will ich mir gar nicht vorstellen. Wie die sich vorhin vermeintlich unauffällig angefasst und angesehen haben, war sogar für mich als ewige Jungfrau deutlich genug.
„Also mein Zimmer ist jetzt nicht sooo ordentlich, aber ich kann dir versichern, dass das noch richtig sauber ist für meine Verhältnisse"
Ich muss schmunzeln, als John das erzählt, während er eine Tür öffnet, in den Raum geht und mir die Tür dann aufhält. „Kein Problem, kenn ich"
Ordnung ist nichts für mich. In meiner Unordnung ist mehr Ordnung als es Ordnung jemals haben wird. Wenn ich ein Mal im Jahr aufräume, finde ich wichtige Sachen nie wieder, egal wie sehr ich mir zu merken versuche, wo ich was hinlege. Außerdem ist aufräumen blöd und nimmt mir einfach zu viel Zeit in Anspruch. Ich nutze lieber meinen Feierabend lieber für sowas wie Netflix, wenn ich zuhause bin.
„Mausi, wo bist du? Komm zu Papa" John geht durch das Zimmer und sucht seine Katze. Ich muss lachen, weil er sie paradoxerweise Mausi nennt. Ob ihm klar ist, was er da sagt?
„Da bist du ja" Er kniet sich vor das Bett, verstellt seine Stimme ganz komisch, krault den weißen Kopf einer Katze und nimmt sie schließlich auf den Arm. Er streichelt sie dabei weiter und bringt sie zu mir. Ich stand in der ganzen Zeit nur ruhig an der Tür und habe ihn beobachtet.
„Julian, das ist Rocky. Rocky, das ist Julian, unser neuer Freund"
„Hallo, Kätzchen" Ich lasse Rocky meine Finger beschnüffeln, ehe ich ihn streichle. Sein Fell ist total weich und flauschig und überhaupt finde ich die Katze echt hübsch. Auch, wenn sie durch das braune Gesicht ein bisschen so aussieht, als sei sie in ihre eigene Kacke gefallen, als sei daran geschnüffelt hat. Aber darüber will ich nicht urteilen, das könnte mir auch passieren.
„Sie mag dich" John klingt überrascht, als er das sagt. „Eigentlich lässt sie sich nur von mir streicheln... Ein Freund von mir hat sie mitgebracht, weil er meinte, sowas Zickiges passt zu mir. Aber zu mir ist sie ganz lieb. Stimmt's, Baby? Ja, du bist eine ganz liebe"
Ich glaube, John kann menschliche Freunde echt gut gebrauchen...
Wir stehen so da und streicheln die Katze, keine Ahnung, wie viel Zeit so vergeht, bis die Tür hinter mir aufgeht und jemand reinkommt.
„Oh äh... Was macht ihr da?" Wyatt sieht verwirrt zwischen uns hin und her.
„Rocky streicheln"
„Ja, aber wieso? Seit wann streichelst du lieber eine Katze, wenn du mit einem süßen Typen alleine im Zimmer bist? Was ist los? Bist du krank? Bekommst du keinen hoch?" Er klingt ernsthaft besorgt.
John verdreht die Augen. „Mir geht's hervorragend. Ich bin auf Sex-Entzug, das weißt du doch... Außerdem wird Julian mein neuer bester Freund, hat Rocky beschlossen"
Wyatt stöhnt genervt auf. „John, die Katze redet nicht mir dir! Begreif das endlich!"
„Lalala ich höre dich nicht"
Ich muss über die kindische Reaktion Johns kichern. Er grinst mich deshalb an.
Ich hasse mein Kichern. Das ist total hoch und... irgendwie mädchenhaft. Meine Freunde machen sich darüber ständig lustig. Aber John scheint es zu gefallen.
„Na schön, aber, wenn ihr nicht ficken wollt, muss ich euch auch nicht allein lassen" Mit diesen Worten wirft Wyatt sich auf das Bett, zieht sein Handy raus und scrollt darauf herum.
John verdreht die Augen. „Wollen wir wieder auf den Balkon?"
Ohne groß nachzudenken nicke ich und folge ihm zurück in die Zweisamkeit.