Zur heutigen Zeit und in einer Welt wie dieser gibt es nicht mehr viel, dessen man sich sicher sein kann.
Manchmal, leider viel zu oft, fühlt es sich so an, als breche alles auseinander. Als stünde man im Keller eines Hochhauses, das einfach über einem zusammenbricht und man steht da und wird schneller davon begraben, als man überhaupt begreifen kann, was genau passiert, bis die Trümmer einen bereits erschlagen haben.
Ungefähr so geht es mir grade auch. Ich habe keine Ahnung, wie ich in diese Lage gekommen bin. Ich weiß nur, dass ich da nicht mehr so einfach rauskommen werde, schon gar nicht allein. Und ganz egal, wie sehr ich mir wünsche, dass die Welt nur für einen kleinen Moment anhält, damit ich mich sammeln und aufschließen kann... sie wird sich weiterdrehen. Und wenn ich nicht dranbleibe, dann tut sie das auch ohne mich.
Ich hatte jetzt vier Tage Zeit, um zu begreifen, was geschehen ist und was das zu bedeuten hat, doch es war noch lange nicht genug, es auch wirklich so weit zu verarbeiten, dass ich sagen kann, ich weiß, wo ich stehe und ich weiß, wo ich hinmuss.
John ist wohl seit gestern wieder ansprechbar. Doch bisher war ich noch nicht dazu in der Lage, zu ihm zu gehen. Ich bin zwar seit Freitag im Krankenhaus und ich habe es auch schon bis vor seine Tür geschafft, aber ich konnte noch nicht zu ihm gehen. Ich will ihn dort nicht liegen sehen und wissen, dass ich dafür verantwortlich bin, dass er dort liegt. Aber gerade weil ich die letzten Monate nur auf mich selbst und meinen Willen geachtet habe, und genau das mich in diese Position gebracht hat, muss ich jetzt damit aufhören. Es geht nicht mehr um mich und darum was ich brauche und was mich glücklich machen würde. Das ist grade sowas von egal. Ich habe lange genug die Augen vor dem Offensichtlichen verschlossen und die Verantwortung von mir geschoben.
Dass ich es diesmal schaffe, an die Tür zu klopfen, liegt weniger an meiner Überzeugung als an meinen Schuldgefühlen. Jede Sekunde scheinen sie nur noch schlimmer zu werden.
Obwohl keine Antwort ertönt, trete ich ein. So leise wie mein Klopfen war, wird John es nicht mal gehört haben.
Ein vorsichtiger Blick um die Ecke offenbart mir John, aufgerichtet in dem Krankenhausbett, einen Katalog vor sich und einen Stift in der Hand. Er schaut konzentriert auf die Seite, ehe er etwas schreibt und sich das ganze wiederholt. Er macht Kreuzworträtsel. Er sitzt da und macht Kreuzworträtsel.
Das ist ein so starker Kontrast zu dem Bild, das sich seit vier Tagen einfach nicht aus meinem Kopf vertreiben lässt, dass ich fast lachen muss. Aber nur fast.
„Hei, Jonny" Vorsichtig gehe ich auf ihn zu.
Er hebt den Kopf, schaut mich an und lässt langsam den Stift sinken. Er schluckt heftig, fast so als erwarte er jetzt eine Szene von mir, als würde ich ihn jeden Moment in Grund und Boden schreien. Dabei sollte eigentlich allein durch meine krächzende Stimme deutlich geworden sein, dass ich für sowas einfach nicht die Kraft habe. Und ich habe auch kein Recht dazu.
„Hi", meint er einsilbig, legt dann den Stift in das Buch, schließt es und legt es neben sich im Bett ab.
Ich bleibe knapp neben ihm stehen, sehe ihn an, doch er schaut bloß auf seine unter der Decke versteckten Fußspitzen.
Vorsichtig greife ich nach seiner Hand. Er beißt sich nervös auf die Lippe, erwidert den Druck aber leicht.
Ich habe keine Ahnung, wie lande das so weitergeht. Es könnten Sekunden sein, aber auch Stunden. Ich sehe ihn einfach an und versuche zu begreifen, wie der Mann, den ich liebe, seit ich glaube zu wissen, was Liebe überhaupt ist, an den Punkt kommen konnte, an dem er versucht, sein eigenes Leben zu beenden. Nein, ich frage mich, wie ich solange nicht sehen konnte, dass alles auf diesen Punkt zusteuert.
Vor allem am Freitag. Ich wusste ganz genau, dass es ihm scheiße geht. Ich habe es einfach ignoriert, weil ich der Meinung war, das hätte mit mir nichts mehr zu tun, es sei nicht mehr meine Aufgabe, mich zum John zu kümmern und er würde das schon selbst packen. Einzig und allein mein mieses Bauchgefühl, das mich dazu gebracht hat, nochmal kurz bei ihm vorbeischauen zu wollen, um nach ihm zu sehen, hat dafür gesorgt, dass John jetzt überhaupt noch atmet.
Die Verbände an seinen Unterarmen schreien aber danach, was passiert ist, ganz egal, wie ohrenbetäubend still es grade zwischen uns ist.
John muss wissen, dass ich es war, der ihn gefunden hat. Ich weiß nur nicht, ob er sich daran erinnert, da er ziemlich benommen war und ständig das Bewusstsein verloren hat. Wahrscheinlich nicht. Doch dafür kann ich an gar nichts anderes mehr denken als daran, wie er komplett angezogen in der Badewanne lag, hüfthohes, bereits rot verfärbtes Wasser um ihn herum.
Jedes Mal, wenn dieses Bild vor meinem inneren Auge auftaucht, bleibt mein Herz erneut für einen Moment stehen. Mir wird schlecht und schwindelig und die pure Panik kriecht in jede meiner Zellen.
„Es tut mir leid, Tyler" John schließt die Augen, als er das sagt, holt danach tief Luft und schaut mit nassen Augen zu mir hoch. „Es tut mir so leid"
Beinahe reflexartig setze ich mich auf seine Bettkante und ziehe ihn in eine Umarmung, streiche tröstend über seinen Kopf und versichere ihm, dass alles gut wird, während er immer stärker zu weinen anfängt und sich dabei in meinem Pullover festklammert.
Ich kann mir gar nicht vorstellen, was grade in seinem Kopf abläuft. Er hat bereits mit allem abgeschlossen. Er hat sich durch die Umarmung am Freitag von mir verabschiedet. Er hat Pillen genommen und sich zur Sicherheit auch noch die Pulsadern aufgeschnitten. Und jetzt liegt er hier, noch immer am Leben und weiß ganz genau, was er mir dadurch angetan hat. Zwar geht es mir alles andere als gut, eher im Gegenteil. Aber ich will nicht, dass er jetzt auch noch Schuldgefühle bekommt.
Er kennt meine Meinung zu Suizid. Er weiß ganz genau, dass ich es für egoistisch und feige halte. Nur ist er davon ausgegangen, sich nicht mit meiner Reaktion dazu auseinandersetzen zu müssen, wenn er es tut.
Damals, nachdem mein bester Freund sich umgebracht hat, hat John wochenlang mit mir darüber diskutiert. Ich war so unglaublich sauer auf Logan. Ich wusste zwar, dass er wegen seines Hirntumors nicht mehr lange zu leben hatte und einfach selbst entscheiden wollte wann und wie es zu ende geht, aber das hat für mich nicht gerechtfertigt, dass er das geplant hat, ohne jemanden davon wissen zu lassen.
Ich hätte ihm gerne noch so vieles gesagt. Ich habe monatelang versucht, die passenden Worte zu seinem Abschied zu finden und ich war noch lange nicht fertig damit. Er hat es mir verwehrt, ihm all das zu sagen. Er hat sich von mir verabschiedet, ohne dass ich wusste, dass es eine Verabschiedung ist. Er hat sich nicht nur das Leben genommen, sondern mir auch die Zeit, wirklich zu begreifen, dass ich mal ohne ihn weitermachen muss. Davon, wie es Anna und ihrer Familie damit ging, will ich gar nicht erst anfangen.
Natürlich war es sein Leben. Er hatte das Recht, darüber zu bestimmen, das weiß ich doch selbst. Aber ich fühle mich von ihm verraten, so als hätte er durch seinen Selbstmord hinterrücks auch einen Teil von mir umgebracht. Und ich muss jetzt damit leben, nicht er.
John weiß ganz genau, dass ich all die Jahre über nicht wirklich wütend auf Logan war, sondern einfach nur verzweifelt. Er weiß, was er mir dadurch angetan hat. Doch, dass er es trotzdem getan hat, beweist auch, dass er einfach nicht anders konnte. Mir ist klar, dass er mir nicht verletzen wollte. Dass es bei alle dem nicht um mich ging, aber ich schwanke die ganze Zeit dazwischen, wem ich die Schuld für all das in die Schuhe schieben soll. Und da gibt es ja nur John selbst oder mich.
Rational gesehen weiß ich, dass ich nichts dafürkann. John hat nie um Hilfe gebeten, er hat zwar depressiv, aber nicht suizidal auf mich gewirkt. Aber es war schon immer eines meiner großen Probleme, dass ich mich selbst für alles Leid der Welt verantwortlich gemacht habe.
Mir ging es so oft so schlecht und es gab so viele Leute, die mir durch ein bisschen Rücksichtnahme so sehr hätten helfen können, aber es einfach nicht getan haben. Ich wollte es anders machen, besser machen. Ich wollte ein guter Mensch sein. Doch egal, was ich tue, ich mache immer alles falsch. Es reicht einfach nicht aus. Und andere müssen dann unter meinem Versagen leiden, obwohl ich grade das verhindern wollte.
Das war's für heute:)
Ich bedanke mich fürs Lesen und die Diskussionen in den Kommis. Vielleicht lässt sich der ein oder andere Wunsch ja erfüllen :)
Was glaubt ihr bedeutet das alles jetzt für die Beziehung von Alex und Tyler?
Und noch wichtiger: die beiden brauchen einen Shipnamen! Her mit den Vorschlägen! XD