82.

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„Aber ihr ignoriert euch jetzt nicht wieder wochenlang" Mats warf mir einen prüfenden Seitenblick zu: „Oder?" wollte er wissen. Es war der nächste Morgen und wir saßen auf einer Bank vor der Klinik und genossen das herbstliche Wetter gemeinsam mit unseren Söhnen, bevor ich rein zur Bestrahlung musste. Ich beobachtete den mittlerweile fast fünfjährigen Ludwig, wie er vorsichtig und liebevoll mit meinem Theo auf einer Picknickdecke vor saß und sie ausgelassen mit dem bunten Laub spielten. „Quatsch" murmelte ich genervt: „aber ich-„ ich stockte. Hatte Marco recht und ich hatte wirklich nur mich selbst bei der ganzen Sache im Kopf? „Was du?" Mats runzelte die Stirn. Ich wandte mich ihm zu und seufzte: „Ich möchte so gerne noch weitere Kinder." gab ich zu. Er blieb still. In ihm arbeitete es. Einige Minuten lang fiel zwischen uns kein einziges Wort. „Du weißt, dass ich bei dem Thema auf Marcos Seite bin." Ich seufzte. War ja klar. „Was bringt es dir ein Kind zu kriegen und es nicht aufwachsen sehen zu können, weil du an Krebs stirbst, der eigentlich behandelbar wäre?" sagte er plötzlich ganz unverblümt. Ich schaute wieder zu unseren Kindern - extra, denn ich konnte ihn nicht ansehen - und schluckte schwer. „Es gibt heutzutage so viele Wege, Kindern ein liebendes, behütendes Zuhause zu schenken. Ihr könntet adoptieren. Vielleicht sogar aus dem Ausland." Ich sagte nichts. Nichts mehr, bis ich mich von allen Dreien verabschiedete, weil ich in die Klinik musste.
Ich setzte mich in den Warteraum zur Bestrahlung und schaute mich um. Die Frauen hier waren alle Älter als ich, mindestens vierzig oder fünfzig Jahre alt. Bis auf eine, sie schien in meinem Alter zu sein und war in ein dünnes Buch vertieft dessen Titel ich nicht erkennen konnte. Ich hatte sie hier in den letzten sechs Wochen noch kein einziges Mal gesehen. War sie vielleicht neu hier? Irgendwie brannte es mir in den Fingern mich zu ihr herüber zu setzen und sie anzusprechen, doch gerade als ich mich dazu überwunden hatte, wurde sie aufgerufen. Mich ärgernd verzog ich das Gesicht. Hatte der Pfleger gerade Frau Bunde gesagt? Oder Wunde? Hunde? Ich hatte es nicht verstanden. Wahrscheinlich war es Quatsch, wer hieß schon so?
Der Raum in der die Bestrahlung stattfand war groß, kahl und angsteinflößend. Wortlos legte ich mich auf die Liege und versuchte die aufkommende Panik un mir zu unterdrücken als der Pfleger das monströse Gerät für mich adjustierte. „So Frau Reus, bis gleich! Sie wissen ja, es dauert nicht lange. Zähne zusammenbeißen und durch." Ich schaffte es, ein wenig zu lachen und atmete tief durch. Es waren wirklich wenige Minuten, vielleicht drei oder vier, jedoch wurden sie meiner Meinung nach von Tag zu Tag länger. Als der Pfleger mich aus dem Gerät befreite schaute ich ihn nachdenklich an. „Was ist los?" lachte er leise. Ich fuhr mir nachdenklich über mein Kinn: „Können sie mir sagen, wie die junge Frau hieß, die vor mir dran war? Ich wollte sie gerade ansprechen, da war sie schon dran.", „Frau Reus, tut ,ihr leid, aber der Datenschutz-", „Kein Problem, ich verstehe." winkte ich schon peinlich berührt ab. Er seufzte und ich verabschiedete mich bereits, da räusperte er sich: „Morgen sage ich ihr bescheid. Sie werden sich bestimmt nochmal sehen." lächelte er. Ich zwang mich ebenso zu einem schmalen Lächeln und nickte enttäuscht, bevor ich mich auf dem Weg zum Ausgang machte.
Mats wartete vor der Klinik als ich herauskam. Theo rannte auf mich zu und wollte auf meinen Arm hüpfen, doch ich konnte ihn nicht tragen. Er war mir in diesem Augenblick zu schwer. Mein Mutterherz brach schmerzlichst in tausend Stücke als ich ihm in die Augen sah und sein Unverständnis sah. Mats schaute mich beunruhigt an, doch ich schüttelte den Kopf um ihm zu verstehen zu geben, dass er ja nichts darüber sagen sollte, ich hätte sonst auf der Stelle losgeheult. „Komm wir gehen zum Auto." Mats hatte Theo für mich hochgenommen und seinen freien Arm über meine Schultern gelegt. Ich hatte dafür Ludwig an die Hand genommen. Dankbar schaute ich meinen Cousin an. Er war mir echt eine riesige Hilfe.
Am Abend brachte ich Theo ins Bett und schleppte mich mit letzter Kraft aufs Sofa. Mir war so Kalt, dass ich mich in die Decke einwickelte. Ich starrte daraufhin zwar den Fernseher an, doch eigentlich war ich in meinen eigenen Gedanken versunkener denn je. Ich fragte mich so langsam warum ich nicht einfach den einfachen Weg gegangen bin, den Tumor entfernen ließ und danach sah, ob ich noch fruchtbar war oder nicht. So hätte es wahrscheinlich jede vernünftig denkende Mutter gemacht, die nicht so stur und egoistisch ihrer Familie gegenüber war wie ich. Aber woher sollte ich denn auch wissen was Richtig war und was Falsch? Jeder wollte mir seine Meinung aufzwingen und verwirrte mich damit. Das öffnen einer Tür ließ mich aufschrecken. Ich schaute zur Tür und somit direkt in Marcos verwirrte Augen: „Ach du bist hier. Ich habe dich schon oben gesucht." Sein Blick wurde sofort weich als er mich so liegen sah. Er verlor keine Zeit, ließ seine Schuhe mitten im Raum stehen, seine Jacke landete daneben auf dem Boden. Er wickelte mich aus der Decke aus, setzte sich zu mir und legte sie um uns beide. Erschöpft ließ ich mich gegen seine Brust sinken und atmete erleichtert aus. Nachdenklich drückte er einen Kuss auf meinen Scheitel: „War es anstrengend heute?" wollte er leise wissen. Ich wusste nicht was ich antworten sollte, also nickte ich wortlos und spürte kurz darauf, wie seine Finger sich durch meinen Scheitel gruben. Zufrieden schlang ich meine Arme um seinen Torso und lächelte in mich hinein. Man war ich froh, dass wir einander nicht aufgegeben hatten. „Wo warst du eigentlich?" wisperte ich nach einigen Minuten voller angenehmer Stille. Ich ging davon aus, dass er sich um das Haus kümmerte was wir vor Weihnachten anscheinend nicht mehr los wurden - obwohl, bis dahin waren es ja noch einige Wochen. „Ich war in der Geschäftsstelle." kam es irgendwann aus ihm heraus. Ich, die diese Worte so gar nicht aus seinem Mund erwartet hatte, schreckte sofort an und schaute ihm prüfend in die Augen: „Was wolltest du da?" Er konnte meinem Blick kaum standhalten und kratzte sich nervös den Hinterkopf.

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⏰ Last updated: Dec 11, 2022 ⏰

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Optimisten - Marco ReusWhere stories live. Discover now