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Nachdem ich Theo ins Bett gebracht hatte, ging ich duschen. Irgendwie machte ich mir vor, ich könnte die Sorgen dieses Tages von mir waschen, doch das war natürlich eine reine Wunschvorstellung.
Gerade als ich in ein schwarzes Spitzentop und eine gemütliche Jerseyshorts schlüpfte, klopfte es unten an der Haustür. Mein noch nasses Haar hinterließ tropfen auf den Fliesen und meine Finger machten schlitternde Geräusche, weil ich mich an das Geländer krallte. „Papa" lächelte ich matt. „Na Spatz? Der Kleine schläft bestimmt, deswegen habe ich nur geklopft. Ich habe hier das Teil für eure Jalousien über der Terrassentür. Wo ist denn Marco?" textete er mich voll als wir in die offene Wohnküche gingen. „Der ist bei meinem Haus und trifft sich mit einem Makler. Wir wollen es endlich loswerden." Ich griff nach einer Flasche Wasser, zwei Gläsern und deutete nickend auf die Terrasse. Mein Vater verstand und öffnete die große, gläserne Schiebetür: „Oh, gut zu wissen. Ich höre mich mal um bei unseren neuen Spielern. Die suchen meistens doch lange nach passenden Häusern und deines ist schon sehr Stilvoll.", „Gute Idee, Paps!" strahlte ich als ich die Gläser abstellte und umarmte ihn daraufhin überschwänglich. Leider verharrte ich zu lange in der komfortgebenden Umarmung meines Vaters, als das er keinen Verdacht schöpfen konnte. Er drückte einen väterlichen Kuss auf meinen Haaransatz, bevor er sich räusperte: „Bella, was ist los?" fragte er besorgt. Ich drückte meinen Kopf gegen seine Brust und unterdrückte mit aller Kraft einen weiteren Heulkrampf. Gut, dass Theo viel zu klein war, um sich später jemals daran erinnern zu können.
„Ich habe Krebs, Papa." krächzte ich kraftlos gegen sein Shirt. Es musste einfach raus. Ich hatte es satt auf die passende Situation zu warten, die es ohnehin nicht gab. Viel zu lange hatte ich meine Probleme immer für mich behalten - genau deshalb stand ich doch auch an der Stelle, an der ich heute stehe. Man hörte mich nur gedämpft, doch ich wusste ich hatte laut genug gesprochen. Er versuchte sich von mir zu lösen, schaffte es aber nicht, bis er seine Hände um mein Gesicht legte und ich ihm in seine traurigen Augen sehen musste. Das war hart. „Wie bitte? Wie, du hast Krebs?" fragte er entgeistert und wurde in eben dieser Sekunde total blass: „War es das worüber du vor zwei Wochen noch nicht reden konntest?" Ich nickte stumm, während mir Tränen die Wangen entlang liefen. Wir setzten und an den Tisch, mein Vater stemmte beide Unterarme auf die Tischplatte und wandte seinen sorgenvollen Blick nicht ein einziges Mal von mir ab. „Erst war es nur eine Auffälligkeit am Eileiter und heute kam heraus, dass die Biopsie einen bösartigen Tumor festgestellt hat." schniefte ich. Hilflos versuchte ich mir mit meinem Handrücken unter der Nase Abhilfe zu schaffen. „Er hat nicht gestreut und sitzt nicht in den Lymphknoten, aber es gibt zwei realistische Handlungsmöglichkeiten und beide beinhalten, dass ich höchstwahrscheinlich unfruchtbar werde." ich wurde immer leiser. „Ach Spatz" mein Vater rieb mir den Oberarm: „Ich weiß es erscheint dir gerade wie die größte Strafe , unfruchtbar werden zu können, aber was würde es dir bringen unbehandelt schwanger zu werden und hinterher ist es für eine Therapie zu spät und du könntest weder Zeit mit dem Baby, noch Zeit mit Marco oder Theo verbringen. Du hast jetzt bereits eine tolle Familie und wichtig ist jetzt, dass du wieder auf die Beine kommst. Ich bin erleichtert, dass der Krebs so früh festgestellt wurde." gab er zu. Seine Worte arbeiteten in mir. Tief in meinem Inneren wusste ich, dass er recht hatte - andererseits hatte ich diese Bilder von einer größeren Familie und weiteren Schwangerschaften von mir im Kopf und konnte nicht klar denken.
Mein Vater versuchte weiterhin, mich zu beruhigen. Ich war froh, dass er da war. Er eröffnete mir neue Sichtweisen, die ich nun verarbeiten konnte.

Es lenkte mich ab ihm später dabei zu zusehen wie er das Teil, das er für die Jalousien mitgebracht hatte, einbaute. Marco wäre ohnehin nach fünf Minuten daran gescheitert. Es dauerte nicht lange, da kam er mit gerunzelter Stirn durch die bereits offene Terrassentür und blickte mich erschrocken an: „Hier Schatz nimm den" er hielt mir seinen Pulli entgegen: „Mit nassen Haaren ist es hier draußen viel zu kalt. Nicht, dass du dich erkältest." Ich verdrehte offensichtlich meine Augen. Das war doch jetzt nicht sein Ernst? Vor wenigen Stunden war ich noch kerngesund und jetzt durfte ich an einem lauen Spätsommerabend nicht mehr mit nassen haaren draußen sitzen, wie eine sechsjährige? Schnaubend stand ich auf und drückte ihm den Pullover wahrscheinlich ein bisschen zu abgeneigt gegen die Brust. Lieber ging ich oben ins Badezimmer und föhnte meine gottverdammten nassen Haare, wenn sie so ein Problem waren.
Gerade als ich den Föhn ausgestellt hatte, schob Marco seinen Kopf durch die Tür und schaute mich entschuldigend an als ich den Föhn, umständlicher als es notwendig wäre, zurück in den Schrank legte. Vorsichtig schlang Marco seine Arme von hinten um meinen Oberkörper und warf mir über den Spiegel einen verständnisvollen Blick zu. Er platzierte seine Lippen liebevoll auf meiner Schulter und lächelte daraufhin. „Bella" wisperte er leise: „Ich bin nicht dein Feind. Ich liebe dich und will, dass es dir gut geht." seine Lippen kitzelten meinen Hals: „Ich mache mir nur Sorgen um dich und das kann ich nicht abstellen, obwohl ich weiß, dass es dich nervt." Ich lächelte, bevor ich mich zu ihm umdrehte: „Ich weiß" brummte ich und vergrub meinen Kopf in seiner Halsbeuge. Meine Arme schlängelten sich um seine Mitte. Es war so still, dass ich seinen schnellen Herzschlag hören konnte. Wenige Augenblicke später hatte ich mir ein Herz gefasst: „Marco, ich hätte so gerne noch mehr Kinder." Als es mir ihm gegenüber endlich über die Lippen kam, konnte ich keine Träne mehr zurückhalten. Marco drückte mich fest an sich und seufzte: „Ich weiß - ich auch." gab er zu: „Das müssen wir aber erst einmal hinten anstellen, auch wenn es weh tut." Ich nickte mit zusammengepressten Lippen. Er hatte recht. Leider.

Optimisten - Marco ReusWo Geschichten leben. Entdecke jetzt