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Es vergingen doch ein paar Tage, bis ich es zum Arzt schaffte. Ich hatte es mir fest vorgenommen, aber die ganze Reise und die Wäsche und der Fakt, dass Marco schon wieder ins Trainingslager musste, verzögerte es.
Normalerweise war ich immer mit dem Team im Trainingslager, aber dadurch, dass ich den Trainerposten abgelehnt hatte und sich jemand um Theo kümmern musste, blieb ich zuhause. Ehrlich gesagt war mir das auch recht so, denn ich konnte mittlerweile nicht mehr einschätzen, ob ich den Sport noch aushalten würde. Insgeheim freute ich mich darauf, mir mein altes Büro wieder herrichten zu können und generell meine alten Aufgaben wieder in Angriff nehmen zu können. Ich merkte, wie sehr ich es vermisste das zutun, was ich gelernt hatte.
Genauso war es auch, als das Trainingsgelände in Brakel betrat und durch das Foyer zu den Trainingsplätzen ging. Es war wenig los, wegen der Sommerpause und trotzdem herrschte hier und da noch reges Treiben. Ich musste daran denken, wie ich vor sechs Jahren das erste Mal mit meinem Vater auf der Trainerbank saß und zum ersten Mal beim Training zugesehen hatte. Eigentlich hatte ich meinem Vater nur gesagt er sollte mich mitnehmen, weil ich mir noch immer keine Gedanken über meine berufliche Zukunft gemacht hatte. Das eine solche Notlüge zu meiner Berufung wurde und das ich hier die Liebe meines Lebens traf, das hatte niemand, und am wenigsten ich selbst, geahnt.
In meinem Büro lag vieles durcheinander, das durchzugehen würde ich vor meinem Arzttermin im leben nicht schaffen. Ich setzte mich auf meinen Bürostuhl, die große Fensterfront im Rücken, durch die das perfekte Licht auf meinen Tisch strahlte. Ich begann durch die Ordner zu Blättern, bis ich unter den ganzen braunen Papphüllen eine weiße Mappe fand. Neugierig öffnete ich sie und war irritiert als mir die Worte Ehevertrag mit dem Datum von vor zwei Wochen darunter ins Auge sprangen. Stirnrunzelnd blätterte ich durch die Papiere und wälzte mich von Punkt eins Unterhaltszahlung im Scheidungsfall bis Punkt zwanzig Vermögensaufteilung. Ganz am Ende standen doch tatsächlich genau zwei Namen - Marco und Isabella Adriana Reus, wobei Marco seine Unterschrift schon auf seine Linie gesetzt hatte. Ganz am Ende der Mappe heftete ein frankierter DIN A4 Umschlag mit der Adresse unseres Anwalts in Düsseldorf. Reflexartig griff ich zu meinem Smartphone, doch dann wanderte mein Blick hinüber zum Rand des Schreibtisches auf dem ein eingerahmtes Hochzeitsbild von Marco und mir stand. Ich erinnerte mich an mein Vorhaben, nicht immer alles zu überstürzen. Marco würde ohnehin trainieren und nicht ans Telefon gehen. Ich konnte besser heute Abend anrufen und in Ruhe mit ihm sprechen. Das Handy wanderte also zurück in meine Hosentasche. Ohne darüber nachzudenken verfrachtete ich den Umschlag in meine Tasche und riskierte einen Blick auf die Uhr. Ich erschrak. In zwanzig Minuten sollte ich im Klinikum sein. Genervt darüber, wie schnell die Zeit plötzlich verflogen war, raffte ich mich auf und eilte so schnell wie Möglich zu meinem Auto.
Obwohl ich es nicht wollte, musste ich doch während der Fahrt über diesen Vertrag nachdenken. Konnte das sein? War es überhaupt möglich, Jahre nach der Eheschließung einen Ehevertrag aufzusetzen? Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, denn der Vertrag klang natürlich fair und nach unseren Problemen und der ständigen Diskussionen um die Scheidungsformalitäten einfach im Falle eines Falles eine entlastende Idee. Andererseits fühlte es sich für mich so an, als würde Marco eine Scheidung trotz allem immer noch erwarten oder gar in Betracht ziehen. Das fühlte sich schrecklich an. Ich durfte das nicht so nah an mich heran lassen - es galt noch wichtigere Dinge zu klären.

Als meine Füße nach etlichen Untersuchungen und Fragen des Arztes wie früher als ich hier war die Pritsche herunterbaumelten und ich warten musste, bis er sich mir wieder widmete, dachte ich wie früher an alles mögliche. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, um keine Angst zu bekommen. Auch war ich noch nie alleine in einer solchen Situation. Früher war Marco da, sogar Mario war sonst bei mir, Mats, Ann-Kathrin oder mein Vater. Sie lenkten mich ab oder waren eben die wichtige Stütze die ich brauchte. Ja, natürlich war ich erwachsen. Ich konnte und musste das alleine durchstehen, auch wenn es mir Angst einjagte.
Gerade wollte ich laut seufzen um meinen Frust loszuwerden, da kam der etwas ältere, sympathische Doc wieder in den Raum und setzte eine Miene auf, dich ich nur allzu gut zu deuten wusste - nach der Fehlgeburt hatte man mich auch so angesehen. Ich hasste dieses „es tut mir leid, ich muss dir jetzt leider etwas schlechtes mitteilen" - Lächeln über alles. Bevor er anfing zu reden, atmete ich tief ein und wieder aus, in der Hoffnung es würde mich beruhigen. Er setzte sich vor mir auf den kleinen Hocker mit dem er sich von A nach B rollen konnte und stützte seine Unterarme auf seinen Knien ab, bevor er wieder in meiner Kartei herumblätterte.
„Frau Reus, sie haben ja in den letzten Jahren einiges durch hier in unserem Haus." murmelte er ein wenig fassungslos: „Ich lese hier von einem ungewollten Schwangerschaftsabbruch durch hohem Stress mit Anfang zwanzig, über versäumte Nachsorgeuntersuchungen durch Stress, bis hin zu einem hormonell bedingten Myom in der Gebärmutter, das ihre Fruchtbarkeit erheblich beeinflusste und kurz darauf eine Schwangerschaft mit Frühgeburt. Das alles ist etwas, das mich im Zusammenhang mit ihrem aktuellen Zustand sehr beunruhigt hat." er schaute mich schief an: „Ich will ihnen keine Angst machen. Erst hatte ich vielleicht an eine postnatale Depression gedacht, aber ich glaube es ist etwas ganz anderes." er zeigte auf das Ultraschallbild, das er etwas gegen das Licht hielt: „Sehen sie da? Es ist ein Tumor im Eileiter. Ich kann ihnen noch nicht sagen, ob es erneut ein gutartiges Myom ist oder vielleicht sogar ein Sarkom. Sarkome sind leider bösartige Tumoren, aber sie sind vor allem in der Gebärmutter sehr selten. Wir sollten eine Biopsie machen, um herauszufinden, wie wir weiter vorgehen müssen. Die Stelle verursacht jedenfalls ihre wiederkehrenden Schmerzen im Unterleib und die Mattigkeit und einige andere Symptome. Der Rest aber, der ist in meinen Augen dadurch verursacht, dass sie wenige Monate nach der Geburt einen unbehandelten Burn-out erlitten. Ihnen mag es mittlerweile besser gehen, aber das is nichts was man auf die leichte Schulter nehmen sollte. Vor allem nicht im Zusammenhang. Es spricht von immer weniger werdenden Lebensqualität, wenn man sich ständig hinterfragt und wenn der Stress einen so einnimmt das man in so jungen Jahren über so lange Zeit an ihren Problemen leidet. Dagegen müssen wir unbedingt angehen, damit sie keine Depressionen entwickeln. Es ist allerhöchste Eisenbahn, Frau Reus. Gut, dass sie gekommen sind.".

Optimisten - Marco ReusWhere stories live. Discover now