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Die Biopsie war eine Sache von vielleicht dreißig Minuten. Dreißig Minuten, die meine nächsten Jahre bestimmen würden.
Ein lauter elfter entfuhr mir, als ich mich ins Auto setzte und ich mich daran erinnerte, dass ich nun Theo von meinen Eltern, die sich ausgerechnet bei Marcos Eltern das erste Spiel des BVBs ansahen, abholen musste.
Marco stand nicht einmal in der Startelf, nachdem er das ganze Trainingslager in Bad Ragaz verpasst hatte. Er saß als Kapitän auf der Bank und mir blutete das Herz. Doch ich wusste er hatte es für mich getan. Für uns. Ihm waren endlich seine Prioritäten klar - etwas das von Anfang an unserer Beziehung ein riesiges Problem darstellte. Es fühlte sich gut an, es gab mir Sicherheit und Geborgenheit.
Mit diesen Gedanken im Hinterkopf fiel es mir leichter, zu Marcos Eltern zu fahren. Mein Verhältnis zu ihnen war eigentlich immer bilderbuchreif, doch sie litt darunter, dass sie natürlich bedingungslos zu Marco hielten und das Hin und Her der letzten Jahre satt hatten. Besonders seine Schwestern waren unglaublich schlecht auf mich zu sprechen. Ich erinnerte mich an Yvonnes und meinem Eklat vor dem Gartenzaun vor einigen Wochen, als sie mir Dinge nach unserer Trennung an den Kopf warf die ich nicht hören wollte und Marco sie das erste Mal wirklich zurecht wies. Ich hoffte einfach darauf, dass wenigstens seine Schwestern nicht da sind.
Erschöpft parkte ich weiter weg und ging ich die letzten Meter zur Doppelhaushälfte. Ich kletterte umständlich über das alte Gartentor, weil ich das alte Schloss nie aufbekam und erwartete auf der Terrasse ein umständlich aufgebautes Public-Viewing a la Thomas Reus, der gerne eine Leinwand und ein Beamer dafür aufbaute. Ich war erleichtert, dass es heute nur ein Tablet war, das auf dem Tisch stand und ich keine spur weit und breit von Yvonne und Melanie fand. „Bella!" Manuela stand sofort auf und riss mich in ihre Arme. Bei dieser überschwänglichen Bewegung entfuhr mir ein leichtes Zischen. Die Biopsie war zwar minimal-invasiv, hinterließ aber dennoch ihre Spuren.  „Alles gut?" fragte sie mich erschrocken. Ich nickte hastig: „Muskelkater" lächelte ich ausweichend.
Natürlich wusste ich, dass das der perfekte Anlass wäre es ihnen zu erzählen, nur hatte ich noch keine Ergebnisse und wollte ihnen nichts dramatischer oder untertrieben erzählen - sondern so wie es ist. Außerdem wollte ich ihren Fußballabend nicht stören.
„Wo ist Theo?" fragte ich meine Mutter, nachdem ich alle begrüßt hatte. Mama nickte zur Küchentür. Auf dem Sofa, geschützt von Kissen, schlief er tief und fest: „Yvonne war bis eben da mot dem Hund. Das fand er total toll. Er schläft jetzt wie ein Stein." lachte Thomas. Ich nickte und zwang mich zu einem Lächeln. Ich konnte ihn jetzt auch nicht einfach wecken, das brachte ich nicht über mein Herz. Also setzte ich mich, ließ mich in den gepolsterten Gartenstuhl so richtig fallen und trank sogar ein kleines Glas Wein, das meine Schwiegermutter mir angeboten hatte. Obwohl der Herbst so langsam seine Fäden zog, die Blätter ihre Farbe tauschten und das Wetter teilweise binnen Minuten umschlug, war es heute Abend lau und angenehm. Es roch nach frisch gemähtem Rasen und den letzten Sommerblumen die blühten. Ich konnte für ein Paar Minuten total entspannen.
Als Theo wieder aufwachte, war das Spiel gerade vorbei und wir machten uns auf den Weg nach Hause.
„Wie schnell warst du aus dem Stadion raus?" schmunzelte ich, als Marco kurz nach mir auf den Hof fuhr. Er hatte nicht einmal Sportsachen an, als er aus dem Auto sprang und zu mir hechtete: „Lass mich ihn dir abnehmen." Theo glitt förmlich sofort in seine Arme und auch meine Tasche hängte er sich über seine Schulter: „Du sollst doch bestimmt nicht anstrengen." sagte er. Ich lachte leise: „Marco, der Eingriff war keine große Sache. Die Tasche kannst du aber öfter mal nehmen, steht dir unglaublich gut." schmunzelnd drehte er sich zu mir während er die Tür aufschloss und drückte seine Lippen auf meine. In mir breitete sich ein warmes Gefühl aus, dass ich so lange nicht mehr gespürt hatte und mir so viel gab.
„Wann kommen denn die Ergebnisse?" Marco und ich saßen auf dem Teppich im Kinderzimmer und verbrachten Zeit mit Theo - etwas das in seinem Leben bisher viel zu kurz kam. Ich lehnte mich an die Wand hinter mir und dachte nach: „In zwei bis drei Tagen ungefähr." Marco stieß leise Luft aus. „Gab es noch Ärger heute wegen des Trainingslagers?" fragte ich vorsichtig. Marco winkte ab: „Quatsch, ich habe doch von Anfang an mit offenen Karten gespielt. Trotzdem durfte ich nicht einen Fuß auf das Feld setzen.", „Ich würde mich auf für die Goldjungen entscheiden anstatt für den alten Sack." neckte ich ihn und stieß ihn mit meinem Fuß leicht an. Sofort kam er zu mir herüber gekrabbelt und setzte sich neben mich. Sein Arm glitt um meine Schultern und ich legte meinen Kopf langsam an seiner Schläfe ab, während meine Augen immer noch auf unserem Sohn lagen, der sich glücklich mit einem Trecker beschäftigte. „Wenigstens du gibst dich noch mit dem alten Sack ab." schmunzelte er leise und küsste sanft meine Schläfe. Ich lachte, wurde danach aber wieder so leise, dass man nur noch die Plastikrollen des Treckers auf dem Parkettboden hörte. Nach einiger Zeit schluckte ich: „Marco", „Hm?", „Was machen wir nur, wenn die Ergebnisse kommen und der Tumor bösartig ist." murmelte ich leise. Meine Stimme brach. Noch gelang es mir, die Tränen die sich anbahnten zurück zu halten. „Daran denken wir besser gar nicht.", „Aber wir müssen doch auch darüber sprechen. Weil die Chancen nicht gerade gering sind, dass es so ist. Ich kann das nicht ignorieren." ich kaute auf meinen Lippen herum. Er löste sich von mir, richtete sich auf und schaute mich eindringlich an. Als ich seinem Blick auswich, legte er seinen Zeigefinger unter mein Kinn und drehte meinen Kopf in seine Richtung: „Wenn es so sein sollte, dann werde ich alles in meiner Macht stehende tun, um dir das alles so leicht wie möglich zu machen. Wir halten zusammen. Wir stehen das gemeinsam durch - weil wir uns lieben. Weil wir Theo lieben und er uns beide zusammen braucht. Wir haben dafür so lange gekämpft und ich werde nicht zulassen, dass uns unser Glück genommen wird. Verstanden?" er hatte beide Hände auf meine Wangen gelegt als er auf mich einredete. Ich schaute ihn an und nickte so gut ich konnte.Dann küsste er mich liebevoll und zog mich danach auf seinen Schoß. Seine Arme schlangen sich gerade um meinen zierlichen Körper, da legte sich Theos Hand auf meinen Oberschenkel und er kletterte zwischen uns.
Marco hatte recht. Das hier war unser Glück. Endlich hatten wir es erkannt - keiner wird es uns so schnell nehmen können.

Optimisten - Marco ReusWhere stories live. Discover now